Denn man sieht nur die im Lichte
Shadow Cabinets in a Bright Country
02. April – 18.Mai 2003

Mit dem Titel der Ausstellung spielt Ted Purves auf den massiven Rückzug der amerikanischen Regierung aus dem sozialen Bereich seit dem Amtsantritt von George Bush an. Bush hatte in seiner 1989 gehaltenen Amtsantrittsrede durch seinen Aufruf zur Nächstenliebe die soziale Verantwortung gegenüber den schwächer Gestellten auf die Bürger der USA übertragen. In der Folge entstanden eine Reihe von privaten Initiativen, deren Vorstellungen über notwendige Hilfeleistungen oft nicht mit denen des Präsidenten übereinstimmte.

Ein Schattenkabinett bildet sich in Opposition zum amtierenden Kabinett und um Alternativen zur herrschenden Regierung zu bilden. Da sein Potential im wesentlichen in der Schöpfung metaphorischer und symbolischer Alternativen liegt und nicht in der realen politischen Macht, sieht Purves hier einen geeigneten Ort für künstlerische Überlagerung und Besetzung. Seine Ausstellungskonzeption bringt diesen Begriff in Verbindung mit einer in der Gegenwartskunst deutlichen Tendenz zu Künstler-initiierten Projekten, die in ihrem Kern auf Vermittlung basieren und das Publikum mit nützlichen Waren, Dienstleistungen und Informationen versehen.

Projekte wie Writing Thai – A Learning Reform der thailändischen Künstlergruppe Nuts Society geben einen guten Einblick in die persönlich engagierten und manchmal auch etwas ungewöhnlichen Initiativen der Künstler, offen zugängliche Varianten von Dienstleistungen zu entwickeln. Ihr Workshop lädt ein, das von ihnen auf der Basis von Begriffen mit demokratischen und sozialen Werten neu zusammengestellte Vokabular der Thai-Sprache zu erlernen. Eine andere Form der Vernetzung und der Kommunikation wählt das Cambalache Collective, wenn es das Publikum auffordert, gemeinsam mit ihnen eine Soundcollage der Stadt aus mitgebrachter Musik, Geräuschen und Statements zu mischen. Die Künstlergruppe it can change schlägt mit ihren Tauschprojekten neue Möglichkeiten der sozialen Interaktion vor. Einen ganz aktuellen Bezug zur Stadt Kassel schaffen die Künstler Kathrin Böhm, Stefan Saffer und Andreas Lang in ihrem Projekt Gründe auf den Tisch stellen. Kasseler Bürgerinnen und Bürger sind eingeladen, pro und contra der Bewerbung Kassels zur Kulturhauptstadt 2010 zu argumentieren und ihre Vorstellungen in kleinen Modellen zu formulieren oder die Ideen anderer zu bewerten.
Zum ersten Mal Gründe auf den Tisch stellen können Interessierte bereits am 29. März in einem Workshop mit den Künstlern in der Kunsthalle. Nuts Society lädt zu ihrem Workshop Writing Thai – A Learning Reform am Mittwoch, den 2. April zum Jour Fixe in die Kunsthalle ein.

Termine
Sa, 29. März,
Böhm/Saffer/Lang: Gründe auf den Tisch stellen

Mi, 2. April, 17 h
Nuts Society: Writing Thai – A Learning Reform



Walking in the City
02. April – 18.Mai 2003
Kuratoren: Melissa Brookhart Beyer, Jill Dawsey

In den späten 70er Jahren schrieb der Kulturtheoretiker Michel de Certeau den Essay Walking in the City. Zu Beginn beschreibt der Autor, wie er auf dem World Trade Center stehend über Manhattan schaut. Von seinem Aussichtspunkt zeigt sich die Stadt als ein im Ganzen fassbares Bild, im Gegensatz zu dem Chaos und Durcheinander der Stadt, durch das man sich auf der Straße bewegt. „Unten“, das ist der Bereich der gelebten Erfahrung, wo Fußgänger sich der Gradlinigkeit der Stadtplanung widersetzen, den Raum nutzen und verändern.
Für Michel de Certeau ist Gehen eine Form der Artikulation, ähnlich dem sprachlichen Akt. Wie die bildliche Sprache, die sich von der buchstäblichen Bedeutung entfernt, führen das Gehen, das Hocken und das Überklettern von geordneten Plätzen weg und bringen neue Bezeichnungen und Mehrdeutigkeiten in das existierende räumliche System.

In den 60er und 70er Jahren haben sich Künstler vermehrt mit diesen Mehrdeutigkeiten und Gegensätzen der Stadt befasst und sich in Performance, Video und Fotografie mit dem klar gegliederten und zugleich chaotischen urbanen Raum auseinandergesetzt. Die Kuratorinnen Melissa Brookhart Beyer und Jill Dawsey beobachten in der aktuellen Kunst ein erneut auflebendes Interesse an der Auseinandersetzung mit menschlichen und künstlerischen Handlungsweisen in den widersprüchlichen Räumen der Stadt. In der Ausstellung Walking in the City stellen sie mit Arbeiten von acht Künstlerinnen und Künstlern räumliche Praktiken in der Kunst von der Mitte der 60er Jahre bis heute vor.

Valie Export, Yayoi Kusama, Adrian Piper und Davie Wojnarowicz erkundeten in den 60er und 70er Jahren die Möglichkeiten, sich dem regulierten urbanen Raum zu widersetzen und seine Gesetzmäßigkeiten zu überwinden. Die Möglichkeiten und Grenzen der Anpassung an den Raum machen Valie Exports Body Configurations auf sehr unmittelbare Weise deutlich, wenn sie ihren Körper in verschiedenste architektonische Gegebenheiten einzupassen versucht. Gleichzeitig eröffnete der urbane Raum im aufgeladenen sozialen Klima der 60er Jahre revolutionäre Möglichkeiten und war so das geeignete Umfeld für die politischen Happenings von Yayoi Kusama.

Künstlerinnen und Künstler der jüngern Generation wie Simon Leung, Kim Sooja, Valerie Tevere und Alex Villar beziehen sich selbstbewußt auf diese künstlerischen Strategien, die in den letzten vierzig Jahren entwickelt wurden. Nach Erfahrungen der Kuratorinnen legen es die aktuelleren Positionen stärker auf eine Bestätigung des eigenen Daseins an. Der alltägliche Raum wird ethnographischen Untersuchungen unterzogen, durch Bestimmungen und Gesetze gebildete Grenzen werden visualisiert. Der urbane Raum wird als ein Gewebe verschiedenster Interessen, Möglichkeiten und Bedürfnisse begriffen.

Die Arbeiten dieser Ausstellung bilden Akte der räumlichen Aneignung. Nicht alle Künstler beschäftigen sich wortwörtlich mit dem Gehen; einige hocken, einige stehen still, einer versucht, auf ungeschickte Weise Gebäude zu überwinden. Das Gehen in der Stadt ist eine nicht ungewöhnliche, aber transformative Möglichkeit, sich Raum anzueignen, die man durch eine beliebige Zahl anderer räumlicher Praktiken erweitern könnte. Die räumlichen Praktiken, die in dieser Ausstellung präsentiert werden, beziehen sich auf eine lange Tradition des Wanderns in der Avantgarde, von der paradigmatischen Figur des Flaneurs im 19. Jahrhunderts zu den Surrealisten und Situationisten, die sich durch Zufälle leiten ließen.