Jean Baudrillard – Die Abwesenheit der Welt

Fotografien
14. Dezember 2003 – 29. Februar 2004

Jean Baudrillard gilt als einer der einflussreichsten französischen Denker der Gegenwart. Nur wenig bekannt ist aber, dass der Gesellschaftstheoretiker und Medienkritiker neben seiner theoretischen Arbeit auch einer künstlerischen Tätigkeit nachgeht: der Fotografie. Die Ausstellung Die Abwesenheit der Welt in der Kunsthalle Fridericianum ist die erste Präsentation seiner fotografischen Arbeiten in Deutschland und zugleich seine bisher größte weltweit.

Seit Mitte der 80er Jahre, aber verstärkt seit Anfang der 90er fotografiert Baudrillard, vor allem während seiner häufigen Reisen in alle Teile der Welt. Es entstehen Landschaftsaufnahmen, Stadtansichten und Bilder von Objekten und Ensembles, die an klassische Stilleben oder Interieurs erinnern. Zugleich aber entstehen Fotografien in extremen Ausschnitten und Nahansichten, die den jeweiligen Gegenstand des Bildes aufzulösen scheinen, so als wolle der Fotograf seiner Struktur auf den Grund gehen – als sei nicht das Objekt an sich von Interesse, sondern das, was in ihm verborgen liegt.

Auch die menschliche Figur taucht in Baudrillards Arbeiten auf und hier scheint es ebenfalls so, als ob über die Jahre eine langsame, aber stetige Annäherung stattgefunden habe. Es gibt Aufnahmen von steinernen Denkmälern, von Puppen und Reklametafeln auf denen Gesichter zu sehen sind. Dann Bilder von Menschen, aufgenommen aus weiter Entfernung oder wenn sie sich unbeobachtet wähnen. Schließlich Porträts und seit neuestem Aufnahmen des eigenen Körpers - bekleidet und nackt, wobei das Gesicht nicht preisgegeben wird. Die Fotos sind mit Hilfe eines Spiegels entstanden und statt des Gesichts sieht man nur die Kamera.

Was bei Baudrillard bisweilen wie „Kalenderfotografie“ oder „Allerwelts-Schnappschuss“ aussieht ist tatsächlich Ausdruck einer ganz bestimmten Herangehensweise an die Fotografie. Und obwohl der Künstler selbst sagt, dass es zwischen seinen Fotografien und seinen Theorien keinen unmittelbaren Zusammenhang gibt, kann man beide nicht losgelöst voneinander sehen. Denn so wie er sich in seiner Theorie schon früh mit den Dingen beschäftigt hat und radikal eine Äquivalenz von Objekt und Subjekt behauptet, stehen die Objekte auch im Mittelpunkt seines künstlerischen Interesses. Was die Dinge kennzeichnet ist ihre Abwesenheit, ihre Absenz, die bei Baudrillard aber nicht gleichbedeutend mit Leere oder Mangel ist – ganz im Gegenteil. „Wir können das Objekt nur sehen, sofern es uns anschaut. Wir können es nur anschauen, sofern es uns bereits gesehen hat. Genauso wie wir die Welt nur denken, wenn wir uns zuerst wünschen, dass sie uns denkt. Das ist der geheime Anspruch: vom Objekt gesehen, begehrt und gedacht zu werden. Im Grunde habe ich keine Lust, mich mit Fotografie zu beschäftigen, ich möchte, dass die Fotografie sich mit mir beschäftigt.“ 1 Die Fotografie (als technisches Medium) birgt die Möglichkeit, das Verschwinden der Dinge, die Abwesenheit der Welt, in der Zeit festzuhalten. Hier kann alles noch in Erscheinung treten, auch die noch so nebensächlichsten Dinge – das Objekt kommt gleichsam durch das Bild zu sich selbst. „Damit das Objekt eingefangen werden kann, muss sich das Subjekt loslassen. Aber darin findet es sein letztes Abenteuer, seine letzte Chance, jene, sich von seiner Selbstbesessenheit zu distanzieren in der Wiederspiegelung einer Welt, wo es von nun an die blinde Stelle der Repräsentation einnimmt. Das Objekt seinerseits hat mehr Kraft im Spiel, weil es nicht durch das Spiegelstadium gegangen ist und dadurch mit seinem Bild, seiner Identität oder seiner Ähnlichkeit nichts zu tun hat, und weil es, ohne Begehren und ohne etwas zu sagen zu haben, dem Kommentar und der Interpretation entkommt. Wenn es einem gelingt, etwas von dieser Unähnlichkeit und dieser Einzigartigkeit einzufangen, so ändert sich etwas auf Seiten der `realen´ Welt und des Realitätsprinzips an sich.“ 2

Jean Baudrillard wurde 1929 in Reims geboren. Nach dem Studium der Germanistik unterrichtete er zunächst als Deutschlehrer an einer Mittelschule. Er übersetzte Texte von Peter Weiss und Berthold Brecht sowie philosophische und soziologische Werke ins Französische und arbeitete als Redakteur der Zeitschrift Traverses. Mitte der 60er Jahre wurde er Assistent bei Henri Lefèbvre an der Université de Nanterres in Paris, wo er 1968 in der Soziologie mit der Arbeit Le système des objets (dt.: Das System der Dinge) promovierte und anschließend einen Lehrstuhl für Soziologie übernahm. 1987 habilitierte Baudrillard mit der Arbeit L´autre par lui même (dt.: Das andere Selbst) und beendete im gleichen Jahr seine Lehrtätigkeit. 1995 erhielt er den ZKM- und Siemens-Medienkunstpreis, zusammen mit dem Regisseur Peter Greenaway. Baudrillard nennt sich selbst weder Soziologe noch Philosoph, sondern zieht die Bezeichnung Theoretiker vor. Seine zahlreichen Analysen zur Konsumgesellschaft, zur Macht der Medien, zum Verschwinden der Politik und seine Theorien der Simulation, der Verführung, der Fatalität und des Bösen sind in mehr als 12 Sprachen übersetzt. Neben den Büchern schreibt er regelmäßige Kolumnen für die Pariser Tageszeitungen Le Monde und Libération.

Präsentiert werden 100 Farbfotografien aus der Zeit von 1983 bis 2002. Es erscheint ein Katalog mit einem bisher unveröffentlichten Text von Jean Baudrillard und einem Text von Christoph Lange.

1) Jean Baudrillard, Es ist das Objekt, das uns denkt, in: Jean Baudrillard, Fotografien 1985 – 1998, Neue Galerie Graz, Ostfildern 1999
2) Jean Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, ebd.

Kuratorin: Barbara Heinrich



Katalog: Jean Baudrillard. Die Abwesenheit der Welt.
Mit einem bislang unveröffentlichten Text von Jean Baudrillard und einem Text von Christoph Lange, 64 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, 15 Euro.


Edition „Jean Baudrillard“:
4 Motive: "London 1997" (Kat. S. 61), "Florida 1986" (Kat. S. 57),
"Ericeira 1993" (Kat. S. 49) und "Bogota 1996" (Kat. S. 42),
signiert und nummeriert
Auflage: je 60 Exemplare
Größe: jeweils ca. 70 x 100 cm (B x H)
Preis: pro Einzelblatt 120.- Euro / Edition gesamt 400.- Euro

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„Die poetische Übertragung der Situation“

Ein Vortrag von Jean Baudrillard (in deutscher Sprache).
Freitag, den 27. Februar 2004 um 21 Uhr, documenta-Halle, Kassel.


Eine Veranstaltung im Zusammenhang mit dem Langen Abend zur Ausstellung „Jean Baudrillard. Die Abwesenheit der Welt“.


Er ist inzwischen eine beliebte Tradition geworden, der „Lange Abend“ der Kunsthalle Fridericianum. Den Abschluss der fotografischen Ausstellung „Jean Baudrillard. Die Abwesenheit der Welt“ wird der berühmte Medienkritiker selbst durch einen Vortrag markieren:
„Die wahre Welt haben wir abgeschafft, welche Welt bleibt übrig? Die Welt des Scheins? Aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die Welt des Scheins abgeschafft.“
Was bleibt, wenn wir von dieser Feststellung Nietzsches ausgehen? Die Welt wird real, von einer vollständigen Realität – aber zugleich bestreitet, widerruft sie diese vollkommene Realität auch. Welche Rolle spielen die Kunst, das Bild, das Foto in diesem Prozess? Doch es gibt auch die Hypothese einer „poetischen Übertragung der Situation“, das heißt einer buchstäblichen Entfaltung der Welt in der Fabel: Transfiguration der Welt ins pure Objekt (wiederum das Foto)?


Während der Vortrag in der documenta-Halle stattfindet, wird die Kunsthalle Fridericianum von 19 bis 24 Uhr geöffnet sein. Hier kann u.a. die zur Ausstellung erscheinende Edition „Jean Baudrillard“ mit vier Motiven aus der Ausstellung eingesehen und erworben werden. Auch Gewinnchancen warten hier: Vier Blätter der Edition werden um 23 Uhr in der Kunsthalle Fridericianum unter den Besuchern verlost.

Das Programm:
19–24 Uhr: Die Kunsthalle Fridericianum ist geöffnet.
21 Uhr: Jean Baudrillard, „Die poetische Übertragung der Situation“,
Vortrag in der documenta-Halle, Kassel.
23 Uhr: Verlosung von vier Blättern der Fotoedition von Jean Baudrillard.

Der Eintritt:
6,- Euro / 4.- Euro ermäßigt.
Gilt sowohl für den Eintritt zur Ausstellung wie auch zum Vortrag.
Zu jeder Eintrittskarte gibt es eine nummerierte Zusatzkarte, die für die später stattfindende Verlosung der Grafiken gültig ist.

Die Karten sind erhältlich im Vorverkauf ab 4.2. an der Kasse der Kunsthalle, sowie am 27.2. an den Abendkassen der Kunsthalle und der documenta-Halle.



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Jour Fixe


17. Dezember
Suzanne van de Ven, Amsterdam
PORTAL II – AFFIXE III

7. Januar
Falko Blask, München
Zur Einführung: Jean Baudrillard.

14. Januar
Thomas Bachler, Kassel
Fotografie als Frage.

21. Januar
Peter Leusch, Köln
Baudrillard im Kontext der aktuellen französischen Philosophie.

28. Januar
Suzanne van de Ven, Amsterdam
PORTAL II – AFFIXE IV

4. Februar
Klaus Lichtblau, Kassel
Wiederkehr des Realen.
Kultursoziologische Anmerkungen zum photographischen Werk Jean Baudrillards.

11. Februar
Michael Wetzel, Frankfurt
Die Zeit der Entwicklung.
Photographie als Spurensicherung und Metapher.

18. Februar
Christoph Lange, Kassel
Ästhetik des Verschwindens. Jean Baudrillard.

25. Februar
Suzanne van de Ven, Amsterdam
PORTAL II – AFFIXE V



27. Februar
Langer Abend, 19 – 23 Uhr
21 Uhr: Jean Baudrillard, Paris, Ein Vortrag.