Hubertus Butin
"Werft Eure Paletten auf den Misthaufen." –
KP Brehmers frühe Druckgrafik im Kontext ihrer Zeit

"I think it would be great if you had an art
that could appeal to everybody."  (Claes Oldenburg)

I
Am 17. August 1956 war es soweit: Nach fünfjähriger Prozeßdauer wurde die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Die Partei wurde aufgelöst, ihr Vermögen wurde beschlagnahmt und die Bildung von Ersatzorganisationen verboten. Erst im September 1968 konnte sich mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) wieder eine Nachfolgepartei legal etablieren. Um 1960 begann der junge Klaus Peter Brehmer, seinen zweiteiligen Vornamen in das Kürzel KP zu verwandeln: eine individuelle, aber deutliche programmatische Manifestation für seine Sympathie für den Marxismus und die verbotene Partei.  KP Brehmers Kunst der 60er und 70er Jahre ist in ihrer politischen Dimension demnach nicht nur als historisches Zeitgeistphänomen zu verstehen, sondern als zutiefst persönlicher Ausdruck seiner politischen Überzeugungen. In einer mit Selbstbildnis betitelten Radierung von 1971 setzte er ein geradezu miniaturhaftes, kaum identifizierbares Kopfbild auf die weite Fläche des Blattes, während darunter auf sehr dominante Weise die zwei schwarzen Buchstaben KP erscheinen, die größer sind als das Portrait selbst. Die starke Betonung dieser doppeldeutigen Abkürzung zeigt deutlich, wie sehr der Künstler die bewußte Wahrnehmung dieser politischen Anspielung und Identifikation mit seiner Person intendierte.
In seiner künstlerischen Praxis setzte Brehmer gegen die politische und kulturelle Restauration nach dem Krieg die grundsätzliche Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten, die "Kunst als sinnliches Instrument emanzipatorischen Bewußtwerdens"  (Brehmer) einzusetzen. Dies implizierte auch die Selbstreflexion des  Künstlers hinsichtlich seiner Rolle im gesellschaftlichen Zusammenhang, die für Brehmer von ganz grundlegender Bedeutung war.

Da Brehmer Druckgrafiker und nicht in erster Linie Filmemacher  oder Fotograf war,  stellte sich für ihn wie auch für viele andere Künstler seiner Zeit die zentrale Frage, wie das Potential einer politisch engagierten Kunst medial so einzusetzen sei, daß es eine über die normativen, institutionellen Grenzen des Kunstbetriebs hinausgehende Relevanz für die Gesellschaft entfalten könne. Aus seinem Kleinen Manifest der Kunstpostkarte ließ Brehmer 1966 auf den Umschlag seiner Kunstpostkartenserie I die Aufschrift drucken: "Werft Eure Paletten auf den Misthaufen. Laßt Eure Produkte in Druckmaschinen rotieren. Die Kunstpostkarte in jedes Haus!"  Das 20. Jahrhundert als das Zeitalter der industriellen Massenproduktion, der Massendistribution und des gesellschaftlichen Massenkonsums forderte immer wieder eine Annäherung der künstlerischen an die kapitalistische Produktion heraus. Dies implizierte sowohl eine veränderte Produktionsweise, die den Mythos der hehren Authentizität und der auratischen Einzigartigkeit des Kunstwerks hinter sich ließ, wie auch eine zeitgemäße Distributionsform. Die Produktion sollte entsprechend der Logik des industriellen Prozesses nicht mehr an den Status des individuell hergestellten Unikats gebunden sein, sondern sollte mittels industriell multiplizierter Objekte und auflagenstarker Druckgrafiken für eine Kunst für alle, für eine Massenkunst sorgen. Der Kult von Spontaneität, Schöpfermacht und Meisterwerk, den noch die Apologeten und Adepten von Abstraktem Expressionismus und Informel betrieben, mußte Brehmer und vielen Zeitgenossen als Anachronismus erscheinen. Das Festhalten an Individualität, Originalität und Autorschaft schien vor allem der Auratisierung des Werkes im elitären Kontext des Kunstbetriebes zu dienen, verhinderte also gerade dadurch eine gesamtgesellschaftliche Wirkung.

II
Der Marginalisierung der künstlerischen Arbeit sollte in der Vorstellung Brehmers und anderer an Auflagenkunst Interessierter konsequenterweise durch eine quasi-industriell organisierte Massenfertigung überwunden werden. Werner Hofmann, der damalige Direktor der Hamburger Kunsthalle, forderte 1969 in seinem Essay über Kunst und Politik in aller Deutlichkeit, daß Künstler sich "der Möglichkeit der ‘technischen Reproduzierbarkeit’" bedienen müßten, indem sie ein "Bündnis mit den Produktionsapparaten"  eingehen sollten. Diese geforderte Rationalisierung der Produktion fand vor allem in der Form des Multiples  seinen durchaus erfolgreichen Ausdruck. Unter dem Multiple wird hier allgemein ein meist dreidimensionales und serienmäßig hergestelltes Kunstobjekt verstanden, dessen standardisierte Fertigung möglichst ohne persönliche Handschrift auskommt und das von vornherein für die Vervielfältigung konzipiert ist.

Mit dem Ziel der Multiplikation der Kunst war natürlich auch die Vorstellung einer zeitgemäßen Distributionsform eng verbunden. Denn die intendierten und zum Teil  realisierten auflagenstarken Arbeiten sollten allen interessierten Menschen zugänglich gemacht werden, nicht nur jenen, die durch soziale Herkunft, Vermögen und Bildung privilegiert waren. Besonders diejenigen Multiples, die unlimitiert waren, schienen  geeignet, den Anspruch einer Demokratisierung der Kunst beziehungsweise einer "Demokratisierung des Kunstkonsums"  zu erfüllen. Trotz der mannigfaltigen, ja gegensätzlichen Auffassungen der formalen Erscheinung, der inhaltlichen Ausrichtung und der rezeptionsästhetischen Funktionsweise der Auflagenobjekte galt allgemein eine Einstellung, die Wolfgang Feelisch, Gründer und Betreiber des VICE-Versandes, auf den Punkt brachte: "Kunsterfahrung sollte nicht vom Preis abhängig sein."  Außerdem gab es besonders zwischen 1967 und 1971 zahlreiche Versuche, den Vertrieb unabhängig vom hierarchischen und etablierten Kunsthandel der Galerien zu organisieren: Aktuelle Kunst wurde in Supermärkten und in Kaufhäusern angeboten, in den Schaufenstern großer Einkaufsstraßen ausgestellt, in Versandhauskatalogen angeboten und dann zum Teil dem Käufer einfach mit der Post zugestellt. Selbst die kommerziell erfolgreichen Galerien erprobten neue Handelsformen; so fand beispielsweise bereits 1967 der erste Kölner Kunstmarkt statt, mit dem eine neue Form der Präsentation von Kunst als Ware etabliert wurde. 1971 forderte der Künstler Dieter Hacker auf einem Plakat seine Kollegen sogar auf: "Tötet Euren Galeristen. Gründet Eure eigene Galerie". Damit sollten sich die Künstler aus der institutionalisierten Abhängigkeit von ihren Vermittlern befreien.

III
Trotz einer umfangreichen Produktion  sollte KP Brehmer in den 60er Jahren mit seinen Arbeiten nur sehr eingeschränkte Absatzmöglichkeiten finden, obwohl er von dem Berliner Galeristen René Block vertreten wurde und in der Mitte des Jahrzehnts Brehmers Grafiken im Durchschnitt lediglich 3,- bis 60,- DM kosteten. Von den 124 druckgrafischen Editionen der 60er Jahre, die das erste Werkverzeichnis aufführt, existieren die meisten nur in winzigen Auflagen von 3 bis 10 Exemplaren, wobei viele davon lediglich Andrucke sind, also gar keine offiziellen Auflagen bilden. Von den grafisch bedruckten Aufstellern und Schachteln der zweiten Hälfte der 60er Jahre gibt es sogar jeweils nur zwei, drei oder vier Exemplare. Der zur gleichen Zeit umfangreichste Motivkomplex, die Briefmarkengrafiken, besteht aus Auflagen von meist je 20 bis 50 Stück, selten darüber. Erst zwischen 1970 und 1975 erreichte Brehmer mit seinen Grafiken wiederholt Auflagenhöhen von 100 bis 650 Blättern.
Von der Verbreitung von Robert Indianas berühmtem Bildmotiv LOVE aus den 60er Jahren konnte Brehmer hingegen nur träumen: In mehreren Gemälden, Plastiken und in über 20 Grafikeditionen hatte Indiana das Wort "Love" zu einem universellen, grafischen Zeichen geformt, dessen denotativer Sinngehalt wie bei einem bekannten kommerziellen Logo sofort verständlich ist. Das staatliche amerikanische Bureau of Engraving and Printing ließ 1973 mit diesem Bildmotiv 330 Millionen echte Briefmarken produzieren. Eine bildnerisch größere Verbreitung einer künstlerischen Arbeit ist wohl kaum vorstellbar.

KP Brehmer versuchte immer wieder, im Sinne der "Demokratisierung des Kunstkonsums"  eine relative Massenproduktion zu erzielen, die die im Kunstbetrieb bis Anfang der 60er Jahre üblichen Auflagenhöhen hinter sich lassen sollte. So konnte er zwischen 1964 und 1974 zehn Editionen bei der Griffelkunst-Vereinigung Hamburg-Langenhorn e.V. herausgeben, die jeweils 350 bis 1200 Exemplare umfaßten. Die kostengünstige Produktion von Postkarten erlaubte Brehmer, 1966 die sechsteilige Kunstpostkartenserie I mit je 1500 Stück drucken zu lassen. Der Siebdruck Rasterskala konnte in Form eines Kalenderblattes für den Berliner Stolpe-Verlag 1968 sogar zweitausendmal hergestellt werden. Die enge Zusammenarbeit mit René Block führte zu zwei Editionen, die nicht als einzelne Grafikblätter erschienen sind, sondern als Künstlerbücher, die die Originaldrucke enthalten: 5 sogenannte "Abbildungen" im gemeinsamen Ausstellungskatalog mit Hansjoachim Dietrich von 1965 (500 Exemplare) und 8 Ideale Landschaften von 1968 (6 Exemplare in Kassettenform als Museumsausgabe und 750 Exemplare als gebundene "Volksausgabe").

Besonders bemerkenswert erscheint die Zusammenarbeit Brehmers mit einer Berliner Lokalzeitung und einer überregionalen Wirtschaftszeitschrift: Im Feuilleton der Sonntagsausgabe des Spandauer Volksblattes vom 17. Mai 1964 erschien ein unbetitelter Klischeedruck in einer Auflage von 30.000 Stück; und der Offsetdruck Korrektur der Nationalfarben wurde im März 1971 als Beilage in dem Monatsmagazin Capital in 225.000 Exemplaren publiziert. Letztere Grafik war eine vertikale Darstellung der deutschen Flagge, deren Farbflächen Schwarz, Rot und Gold in ihrer Größe von Brehmer entsprechend der Vermögensverteilung in der Bundesrepublik verändert worden war. Während der documenta 5 von 1972 wehte das Grafikmotiv in Form einer großen Fahne aus Stoff vor dem Gebäude des Fridericianum in Kassel. Der Einsatz dieser konzeptuellen ökonomischen Studie in Form eines anschaulichen und entlarvenden Bildes fand soviel Anklang, daß ein Jahr später von fremder Hand ein Raubdruck (etwa 1000 Exemplare) von der Druckgrafik hergestellt wurde, den Brehmer aber nachträglich autorisierte und sogar in sein Werkverzeichnis aufnahm. Dies zeigt deutlich, wie sehr ihm an der grundsätzlichen Vervielfältigung und starken Verbreitung seiner Arbeiten lag.

Trotz dieser Erfolge hatten sich Brehmers Hoffnungen nicht in dem Maße erfüllt, wie sie sich im Optimismus und Enthusiasmus der 60er Jahre entwickelt hatten. Bereits 1971 stellte der Künstler ernüchtert fest: "Als Kommunikationsmittel hat die Bildende Kunst ihre Basis verloren, die Kanäle sind durch Fremdinteressen verstopft. Auch der Versuch der Erneuerung des Mediums durch neue Formen wie Aktionen, Happenings etc. hat an der politischen Uneffektivität nichts ändern können. Die Breitenwirkung ist ausgeblieben, die angestrebte Sensibilisierung von Massen, ersehntes Ziel der Kunstproduzenten, wurde von einer Bewußtseinsindustrie, die über die Produktionsmittel verfügt, übernommen und im Interesse einer reaktionären Gesellschaft manipuliert."  Des weiteren äußerte er: "Wenn kein Markt da ist, kann ich keine Massenauflage absetzen. [...] Es ist absolut falsch, wenn wir meinen, daß wir in unserer Situation mit Massenauflagen so etwas wie Volkstümlichkeit erreichen könnten, das ist überhaupt nicht drin. Das muß nämlich vom Inhalt her passieren. Wir können nur dann für unsere Arbeit eine breitere Basis finden, wenn wir uns mit den Problemen der breiteren Massen auseinandersetzen, wenn wir darauf eingehen und etwas zur Lösung dieser Probleme versuchen beizutragen. Aber das ist ja mit unserer Arbeit allein nicht zu leisten."

Dieser Pessimismus hinsichtlich des Kommunikationswerts und der Breitenwirkung von Kunst steht im Einklang mit der Feststellung, daß die Auflagenhöhe von Brehmers Arbeiten nicht zwingend etwas über ihre tatsächlichen Verkaufszahlen aussagt. Die Erschließung breiter Käuferschichten stellte selbst für bekannte Galeristen und Verleger wie Hein Stünke in Köln, René Block in Berlin oder Wolfgang Feelisch mit seinem VICE-Versand in Remscheid immer wieder ein Problem dar. Günther Gercken hatte schon im Katalog der 4. documenta darauf aufmerksam gemacht, daß die Absatzmöglichkeiten hoher Auflagen, zumindest zum Zeitpunkt der Produktion, fast immer gering seien.  Hinzu kam, daß der Grafikboom am Ende der 60er Jahre zu einer Überproduktion führte. Diese inflationäre Entwicklung sollte den Markt 1972/73 mittelfristig in eine wirtschaftliche Talsohle führen. Daß Kunst in der zweiten Hälfte der 60er und ersten Hälfte der 70er Jahre erschwinglicher und zugänglicher geworden ist, sei hier aber unbestritten. Die Veränderungen der Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen waren unübersehbar. Die großen Ziele einer umfassenden Demokratisierung der Kunst oder einer positiven, gar revolutionären Veränderung der Gesellschaft schienen Brehmer jedoch gescheitert zu sein. Denn ihm war bewußt geworden, daß es immer nur eine kunstinteressierte Teilöffentlichkeit ist, die sich fernab einer gesamtgesellschaftlichen Partizipation mit den Inhalten und Intentionen der Kunst beschäftigt. Jedoch, als wenn er sich selbst Mut zusprechen wollte, schrieb Brehmer 1971: "Wenn wir trotzdem weitermachen, so bedeutet das: Waffen schärfen, bis die Zeit zum Losschlagen da ist."
IV
Um den trotz aller Resignation immer noch deutlichen politischen Impetus dieser letzten Aussage besser verstehen zu können, soll nach dem historischen Kontext gefragt werden, in dem sich KP Brehmer mit seinen künstlerischen beziehungsweise gesellschaftspolitischen Geltungsansprüchen bewegte, wobei dessen Darstellung hier nur kurz umrissen werden kann und außerdem auf die Bundesrepublik beschränkt bleibt.
Im Zuge der Entwicklung der antiautoritären Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition kam es besonders in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu einer starken Politisierung der Kunst in unterschiedlichster Form. Ein materialistisches und basisorientiertes Kulturverständnis wurde dem sogenannten elitären Ästhetizismus und spätbürgerlichen Subjektivismus entgegengesetzt. So schrieb zum Beispiel Joseph Beuys mit messianischem Sendungsbewußtsein die "Erziehung aller Menschen zur geistigen Mündigkeit"  auf seine Fahnen und kämpfte für eine "Erneuerung des sozialen Ganzen"  und für "einen freien demokratischen Sozialismus" . In einer Druckgrafik von 1971 verkündete er selbstbewußt: "La rivoluzione siamo Noi" (Die Revolution, das sind wir). Von selbstgenügsamen "ästhetischen Spielereien" , wie es Klaus Staeck formulierte, hatte man jetzt genug. Dementsprechend kritisierte er mit seinen politischen Plakaten und Postkarten schon seit Anfang der 60er Jahre auf sarkastische Weise die bundesdeutsche Politik und Wirtschaft. Wolf Vostell verkündete nachdrücklich: "Gefordert wird, daß jeder künstlerische Beitrag zur Aufklärung in dieser Zeit beiträgt."  Der Berliner Galerist René Block führte 1965 eine fiktive Wahl von Künstlern als Abgeordnete des Deutschen Bundestages durch. 1968 produzierte Sigmar Polke sein berühmtes provozierendes Großes Schimpftuch. Jörg Immendorff  forderte in verschiedenen plakativen Bildern: Hört auf zu malen (1966) oder Die Demonstration gut vorbereiten (1972) und fragte unmißverständlich: Wo stehst Du mit Deiner Kunst, Kollege? (1973). Auch wenn die hier aufgeführten Positionen große Unterschiede aufweisen und die konkret handlungsstiftenden Möglichkeiten einer politischen Kunst meist eng begrenzt waren und sind, wurde damals von vielen Menschen Kunst als oppositionelle Kraft begriffen, als bewußtseinsveränderndes Potential und Instrument kritischen Widerstands.

Letztendlich ging es um die Frage: Wie läßt sich das von Gesellschaftsutopien getragene Projekt der historischen Avantgardebewegungen im aktuellen Kontext wieder aufnehmen, das André Breton 1924 in seinem ersten Manifeste du surréalisme auf die Formel gebracht hatte, es gelte, endlich "die Poesie zu praktizieren" ? Schon Lautréamont hatte im 19. Jahrhundert nachdrücklich gefordert: "Die Poesie muß von allen gemacht werden." Dementsprechend organisierte Pontus Hultén 1969 im Moderna Museet in Stockholm eine Ausstellung mit dem signifikanten Titel Poetry must be made by all! Transform the world! Es ging dabei um die Verbindung von "radikaler Kunst und revolutionärer Politik" . Hultén präsentierte unter anderem Graffiti von der Pariser Mairevolte, die ein Jahr zuvor selbst mit dem Slogan "Die Fantasie an die Macht" angetreten war. Nicht zufällig sind den Fotos dieser Graffiti im Ausstellungskatalog Ausschnitte aus Herbert Marcuses Buch Versuch über Befreiung  beigefügt. Denn mit seinem Essay hatte Marcuse die Praxis der französischen Jugendrevolte als die geforderte Aufhebung der Kultur gedeutet, mit der  die Kunst ins Leben übertreten und die bürgerlichen Lebensverhältnisse revolutionieren sollte.
Die Überwindung der Autonomie des Kunstwerks und seiner sozialen Marginalisierung sollte zu einer Einbindung des Ästhetischen in die Gesellschaft führen und damit auch den Geltungsanspruch der Kunst erneut stärken, die Gesellschaft progressiv zu verändern. Dieser Rekurs der Neo-Avantgarden der 60er Jahre auf die Tradition der historischen Avantgarden des ersten Drittels unseres Jahrhunderts ließ sich in seinem
gesellschaftspolitischen Impetus offensichtlich nicht durch die Einsicht bremsen, daß die politischen Intentionen zum Beispiel der Futuristen, der Dadaisten, der Surrealisten, der russischen Konstruktivisten, der De Stijl-Künstler und der Bauhäusler zu weiten Teilen uneingelöst blieben. Um 1970 machten so unterschiedliche Theoretiker wie zum Beispiel der Literaturwissenschaftler Peter Bürger  und der Protagonist der Situationistischen Internationale Guy Debord  darauf aufmerksam. Der trotzdem sich entfaltende politische Optimismus in Teilen des deutschen Kulturbetriebes resultierte nicht zuletzt aus der euphorischen Rezeption, die Walter Benjamin in den 60er Jahren zuteil wurde.  Der Kunsthistoriker H. D. Buchloh ging in seiner Verehrung sogar so weit, daß er vor seine zwei Vornamen noch einen dritten setzte, der nicht auf seiner Geburtsurkunde steht: Benjamin.

Walter Benjamins berühmter Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1936 für die "Zeitschrift für Sozialforschung" verfaßt, spielte bekanntermaßen eine besondere Rolle. Er wurde 1963 neu verlegt und fand eine außerordentlich weite Verbreitung. Wie Jürgen Habermas bemerkte, hat der Verfasser "das Verhältnis von Kunst und politischer Praxis [...] vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der organisatorischen und propagandistischen Verwertbarkeit der Kunst für den Klassenkampf gesehen" . Durch die modernen und die Aura des Kunstwerks aufhebenden Reproduktionstechniken vor allem des Films und der Fotografie trat nach Benjamins Auffassung an die Stelle der individuellen, kontemplativen Hinwendung zur Kunst deren massenhafte, kollektive Rezeption. Aus materialistischer Perspektive bedeuteten demnach – verkürzt gesagt – die Entwicklung und die Veränderung der technischen Mittel auch die Veränderung der Rezeptionsweisen. Benjamin glaubte im technischen Fortschritt der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks beziehungsweise in der Anwendung moderner Medien ein Fördermittel für den gesellschaftlichen Fortschritt erkannt zu haben. Denn den neuen Reproduktionsverfahren sprach er eine gesellschaftlich emanzipatorische und damit politische Qualität zu, die sich auch KP Brehmer für seine Kunst erhoffte. Brehmer und zahlreiche andere Künstler versuchten, Walter Benjamins Forderung nach einer "Politisierung der Kunst"  in vielfältigster und unterschiedlichster Form umzusetzen und dabei den Einsatz moderner Reproduktionstechniken zu forcieren.

V
Neben den in Kapitel III aufgeführten ökonomischen Problemen der Distribution und der grundsätzlichen Frage der Erreichbarkeit der anvisierten Käufermassen gab es auch drei wichtige ideologische Gegenargumente, mit denen Benjamins Vorstellung einer "Politisierung der Kunst" und die gesellschaftspolitisch engagierten Ideen einer massenhaften Multiplikation und Verbreitung der Kunst in den 60er und 70er Jahren konfrontiert waren. Benjamin Buchloh beschrieb die Situation folgendermaßen: "Die Neue Deutsche Linke der 60er Jahre hegte gegenüber der kulturellen Produktion der Neo-Avantgarde den Verdacht, daß diese nicht viel mehr sei als das Ergebnis bestimmter Marktinteressen, welches dazu diente, Museen und Wohnungen mit Luxusgütern auszustatten und den Neokapitalismus der Nachkriegsperiode zu legitimieren. Jedwede kulturelle Produktion galt als reaktionär, per definitionem affirmativ (Warhol beispielsweise) und systemerhaltend."  Symptomatischer Ausdruck für diese Haltung – um einen Blick in ein europäisches Nachbarland zu werfen – ist auch die Aussage des Kommissars des französischen Pavillons auf der Biennale von Venedig 1968: "Die Zahl der kleinen Besitzer von Kunstwerken vervielfachen, heißt, den Kult des privaten Besitzers in abscheulichster Weise bestätigen. [...] Das ‘Multiple’ ist Demokratisierung der Kunst anstatt Sozialisierung der Kunst. Es ist Reform statt Revolution."

Neben diesem vorurteilsvollen Argument des Kontraproduktiven und Reaktionären sah sich die politisch engagierte Kunst einem weiteren Kritikpunkt ausgesetzt: Theodor W. Adorno, dessen konservativ auratischer Werkbegriff auf die Dimension des Ästhetischen, Subjektiven und Autonomen begrenzt war, fürchtete den Warencharakter der Kunst. Dieser würde dem Betrachter die Einstellung eines Konsumenten aufdrängen und ihn um das Glück des einsamen Kunstgenusses bringen. Die autoritäre "Kulturindustrie" würde bewirken, daß "von der Autonomie der Kunstwerke [...] nichts übrig [bliebe] als der Fetischcharakter der Ware", der das Werk zum bloßen "Ding unter Dingen"  machen würde. Die künstlerische Produktion und kommerzielle Distribution hatten die "Ästhetische Theorie" Adornos allerdings längst überholt, als sie 1973 aus dem Nachlaß publiziert wurde. Sogar die Künstler selbst – wie zum Beispiel Marcel Broodthaers – thematisierten in ihren Arbeiten um 1970 die gesellschaftlichen Praktiken der Institutionalisierung von Kunst und deren Warenform. Das allgemeine Phänomen der "Überlagerung künstlerischer und kommerzieller Wertigkeiten" , wie es Broodthaers selbst ausdrückte, war für ihn ein naheliegender Gegenstand seiner Erkenntnis, die aber nicht mit erhobenem Zeigefinger vorgetragen wurde.

Das dritte Gegenargument, das ebenfalls von ökonomischen Überlegungen ausging, war das der Ineffizienz. Der Kulturkritiker Fredric Jameson betonte 1977: "Das System ist in der Lage, selbst die potentiell gefährlichsten Formen politischer Kunst aufzunehmen und zu entschärfen, indem es sie in kulturelle Waren verwandelt."  Es ist zwar grundsätzlich richtig, daß so gut wie jede künstlerische Produktion das kommerzielle Warenangebot erweitert und somit der Gefahr der Korrumpierung und affirmativen Vereinnahmung ausgesetzt ist, aber der Warencharakter qualifiziert das Kunstwerk nicht bloß wie ein Attribut, sondern konstituiert es überhaupt erst. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Bild, eine Skulptur, eine Installation, einen Text, ein Video oder eine Performance handelt. Die künstlerische Arbeit, die sich dem Warenstatus entziehen will, marginalisiert sich selbst und verurteilt sich langfristig zur gesellschaftlichen Wirkungslosigkeit, da diese Kunst weitgehend außerhalb der Wahrnehmung bleibt. Werner Hofmann äußerte 1969 emphatisch: "Heute kann die Macht eines Apparates nur brechen, wer sich eines noch wirksameren bedient. Der Außenseiter, der entrüstet sein Anderssein proklamiert, hat keine Chancen."  Gegenüber den gesellschaftlichen und politisch-ökonomischen Machtverhältnissen bleiben also die Geltungsansprüche der Kunst ungehört, wenn sie sich nicht der produktivistischen und medialen Mechanismen dieser Machtverhältnisse bedienen. Damit war von seiten der Künstler wie KP Brehmer jedoch nicht eine opportunistische Unterwerfung unter die Gewalt des Marktes gemeint, sondern eine konstruktive Ausnutzung und Instrumentalisierung der Möglichkeiten dieses Marktes.

VI
Wie sah nun die konkrete künstlerische Praxis Brehmers aus, das "Waffen schärfen" , wie er es nannte? Nachdem der Künstler Ende der 50er Jahre eine Ausbildung als Reprotechniker absolviert hatte und 1961 an der Krefelder Werkkunstschule und an der Düsseldorfer Kunstakademie freie Grafik studiert hatte, entschied er sich bald, in erster Linie fotomechanische Reproduktionstechniken anzuwenden (Klischeedruck, Siebdruck und Offsetdruck). Damit hat er – darin Andy Warhol und Gerhard Richter vergleichbar – den Gegensatz von künstlerischer Handarbeit und industrieller Technik wie auch die traditionelle Vorstellung vom Künstler als dem unmittelbaren und autonomen Schöpfer untergraben. Bereits in seinen frühesten Tief- und Hochdrucken zwischen 1960 und 1964 hat Brehmer zum Teil auf fotografische Bildvorlagen zurückgegriffen. Die unterschiedlichsten architektonischen, technischen und organischen Bildmotive wurden dabei wie bei einer dadaistischen oder surrealistischen Montage auf der Bildfläche zusammengefügt und assoziativ miteinander konfrontiert – bei Brehmer allerdings auf drucktechnische Weise. Diese Art der Herstellung eines Formverbandes aus disparaten Wirklichkeitsfragmenten sollte der Künstler bis über die Mitte der 60er Jahre hinaus beibehalten. Mit dem Klischeedruck, eine Hochdrucktechnik, die auch als Rasterätzung oder Autotypie bezeichnet werden kann, hatte Brehmer ab 1964 die ideale, an keine Auflagenbegrenzung gebundene Reproduktionstechnik gefunden.

Von 1964 bis 1968 lassen sich parallel zur amerikanischen Pop Art und den Bildwelten Gerhard Richters und Sigmar Polkes verstärkt Motive aus der Werbung für Konsum- und Gebrauchsgüter und aus der Berichterstattung der Massenmedien finden: banale Haushaltsgegenstände, Kosmetikartikel, Fernseher, Autos, Sportler, Astronauten,  Medienstars, Schriftelemente, Blumen, Tiere etc. Mit den zwischen 1965 und 1968 produzierten Aufstellern und Schachteln sprengte Brehmer die zweidimensionalen Grenzen seiner Druckgrafiken, indem er ihnen eine räumliche Dimension gab. Er bedruckte Pappschachteln mit werbeartigen oder auch werbefremden Motiven und formte seine Blätter zu Objektgrafiken, die an aufstellbare Reklametafeln samt integriertem Warensortiment in Einkaufsläden erinnern. Einige von ihnen enthalten Lockenwickler, Nägel, Strumpfhalter, Filmstreifen oder Stofftücher. Etwa zeitgleich entstanden die poetischen Multiple-Boxen der Fluxus-Bewegung, in denen sich kleine Objekte, Gedichte, Schallplatten, Audiocassetten, Leporellos, Bücher, Partituren und Anweisungen für Aktionen in Form von event cards befinden. Diese Kästen und Koffer waren im Sinne von Fluxus auf Benutzung, Gebrauch und Interaktion angelegt, was mit dem unterschiedlichen Inhalt der Schachteln und Aufsteller KP Brehmers zum Teil auch möglich wäre. Ob es jedoch seinen tatsächlichen Absichten entsprechen würde, bleibt unklar.

In Brehmers Druckgrafiken tauchen besonders häufig reproduzierte Bilder von nackten oder nur spärlich bekleideten Frauen aus der Werbung und aus Illustrierten auf. Die im Kunstkontext bildwürdig gemachten Motive stereotyper "Weiblichkeit" werden in ihrer Funktion innerhalb der medienbestimmten Alltagskultur analysiert und in ihrem Status als künstliche Inszenierungen betont. Denn in den herrschenden Ordnungen visueller Repräsentation tritt das weibliche Subjekt fast immer als Spiegelbild dessen auf, was das männliche Subjekt sehen will und einer permanenten Begutachtung unterwirft. Aus der kritischen Auseinandersetzung mit diesen alltäglichen Formen gesellschaftlicher Bildproduktion resultierte eine Kunst, die der Künstler "als sinnliches Instrument emanzipatorischen Bewußtwerdens"  (Brehmer) verstanden wissen wollte.

VII
Neben KP Brehmers künstlerischer Auseinandersetzung mit den Inhalten und der Ästhetik der Werbe- und Medienbilder waren es die sogenannten Briefmarkengrafiken, die ebenfalls einen direkten bildlichen und thematischen Bezug zur gesellschaftlichen Realität herstellten. Denn das Bild der Briefmarke ist zum Beispiel neben der Fotografie und dem Film ein sozialer Kommunikationsträger par excellence. Der Künstler bediente sich mit diesem Medium eines gesellschaftlichen Zeichenvorrats, der außerdem aufgrund seines massenmedialen Charakters und seines Status als historischer Quelle spezifische Rückschlüsse auf die sozialen Verhältnisse und politischen Entwicklungen der jeweiligen Zeit erlaubt. Im Kunstkontext der 60er Jahre bedeutete Brehmers Aneignung und Modifikation eines solchen etablierten Mediums, das jenseits von jeder Hochkunst angesiedelt ist, im Sinne der Pop Art eine "Nobilitierung des Trivialen" .

Die große Werkgruppe der Briefmarkengrafiken, die etwa 50 verschiedene "Ausgaben" umfaßt, entstand zwischen 1966 und 1972, wobei die meisten Drucke 1967 produziert wurden. Daß zum Teil gleiche Motive in verschiedenen Farben, unterschiedlichen Auflagenhöhen, mit und ohne Stempelungen und in Form von Einzelmarken, Markensätzen und -bögen oder gar in "Auswahlbeuteln" erschienen, spielt auf die Obsessionen der Briefmarkensammler an. Denn die Briefmarke, diese amtliche Grafik der Post, die erfunden wurde, um als Gebührenbeleg den Postverkehr zu vereinfachen, ist das klassische Beispiel für die bürgerliche und kleinbürgerliche Sammelleidenschaft. Das durch die grafischen Varianten erzeugte "Spiel mit dem Sammler"  (Brehmer), diesem Sachverwalter der kultivierten Objektbeziehung, zielt ironisch auf die so ernste Praxis der Philatelisten: das Aufspüren, Erwerben oder Tauschen, das Vergleichen, Bestimmen und Bewerten, das Ordnen, Einteilen und Gruppieren, das Einfügen in die Kollektion und letztendlich das liebevolle Betrachten der kleinen Papierschnipsel.
Nichtsdestotrotz nahm Brehmer die Bilderwelt der Postwertzeichen als autoritative Instanz, also als kulturelle Definitionsmacht ernst.

Die erste Briefmarkengrafik Brehmers konnte provozierender kaum ausfallen: Im Klischeedruck reproduzierte er 1966 eine Marke des "Deutschen Reiches" mit dem repräsentativen Portrait Adolf Hitlers. Die Vorlage für diese Grafik war eine der  zahlreichen "Führerpostmarken", mit denen Hitler ab 1937 verherrlicht wurde. Die Übertragung des nationalsozialistischen Motivs in eine zeitgenössische Druckgrafik mit den Maßen von 37 x 31 cm wurde bei Brehmer zu einem Verfremdungsmittel, das einem Tabubruch gleichkam. In seiner kommentarlosen Präsentation wurde das Motiv aber nicht deshalb zum Skandalon der Kunst, weil es die Gefahr einer affirmativen Verherrlichung beinhalten konnte, sondern, weil mit der Grafik in den 60er Jahren auf einen perfekt eingespielten gesellschaftlichen Verdrängungsmechanismus hingewiesen wurde. Mit dem Linolschnitt Hitler / Überdruck von 1969 wurde dies noch deutlicher. Der Künstler gab mit den Maßen 33 x 27 cm eine Briefmarke wieder, die im Original noch kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Verwendung gefunden hatte. Da es in der sowjetischen Besatzungszone noch keine neuen Postwertzeichen gab, wurden die unliebsam gewordenen Marken mit dem Portrait des "Führers" mit speziellen Stempeln so überdruckt, daß das Kopfbild Hitlers unkenntlich wurde und nur noch die Wertangabe deutlich sichtbar blieb.

Diese aus ganz pragmatischen Gründen vorgenommene Überstempelung wurde in Brehmers, dieses Motiv aufnehmenden Grafik zu einer signifikanten Metapher für das Verhältnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 60er Jahre zur eigenen Vergangenheit. Die Geschichte des Nationalsozialismus und besonders die Schuldfrage wurde bereits Anfang der 50er Jahre aus dem Gedächtnis getilgt, öffentlich wie auch privat verdrängt, wie das am Ende des Krieges auch die erklärtesten Pessimisten nicht vorausgesehen hatten. Die kollektive Weigerung oder Unfähigkeit, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Verantwortung zu tragen, wurden zu einem Paradebeispiel der Täuschung und Selbsttäuschung. Die verfehlte Entnazifizierung beziehungsweise die Renazifizierung des bundesrepublikanischen Staates war einer der grundlegenden "Geburtsfehler"  der Nachkriegsdemokratie. Gerade in den 60er Jahren wurde das Schweigen und Verdrängen immer spürbarer und unerträglicher. Eine der Folgen war, daß die terroristische RAF in ihrer Radikalität die Gründer der Bundesrepublik sogar als "die Generation von Auschwitz" bezeichnete.

VIII
Die wohl bemerkenswertesten Blätter innerhalb der Werkgruppe der Briefmarkengrafiken bilden jene, bei denen KP Brehmer Motive verändert oder sogar  selbst entworfen hat. Wenn er bestehende Images umcodiert und seinen eigenen Absichten verpflichtet hat, so wurde damit das bestehende Angebot an Motiven vor allem bundesdeutscher Postwertzeichen subversiv unterlaufen; die herrschenden Ordnungen visueller Repräsentation wurden also in Frage gestellt. Mit dem Klischeedruck Volkskampf gegen Atomtod von 1967 hat Brehmer eine bildnerische Authentizität vorgetäuscht, deren scheinhafter Charakter nach anfänglicher Irritation dann doch durchschaut wird. Der Künstler hat dem Motiv der 1958 in der DDR erschienenen Originalbriefmarke eine andere nationale Identität gegeben, indem er die Marke in seiner Grafik mit dem Aufdruck "Deutsche Bundespost" versehen hat. Bundeskanzler Adenauer trat 1957 für die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen ein, was heftigste Debatten auslöste und ein Jahr später durch die SPD zu der Gründung des Aktionsausschusses "Kampf dem Atomtod" führte. Ein bundesdeutsches Postwertzeichen mit dem politischen Motto "Volkskampf gegen Atomtod" wurde aber nie ausgegeben.

Daß schon das alleinige Ansprechen bestimmter Themen aufgrund einer konkreten Aktualität eine provokative Sprengkraft besitzen konnte, zeigt auch ein anderer Hochdruck: Starfighter in Natogrün von 1966. Auch eine solche Marke hat es nie gegeben; sie wurde von Brehmer entworfen und ironischerweise mit dem Aufdruck "Wohlfahrtsmarke" versehen, als würde es sich bei dem abgebildeten Kriegsgerät um ein Projekt der öffentlichen Fürsorge handeln. In Wirklichkeit war die Ende der 50er Jahre von Verteidigungsminister Franz Joseph Strauß beschlossene Anschaffung des amerikanischen Kampfflugzeuges "Starfighter" der finanziell und wehrtechnisch größte Fehlschlag in der Geschichte der Bundeswehr, da äußerst viele der angekauften Maschinen einfach abstürzten.

Die Deutsche Bundespost hat in den 60er Jahren Gedenkmarken nicht nur für Politiker wie Adenauer, Churchill und Kennedy herausgegeben, sondern durchaus auch Persönlichkeiten wie Lassalle, Marx und Engels auf Sonderpostwertzeichen verewigt. Mit einer Sondermarke 1970 an den hundertsten Geburtstag von Lenin zu erinnern, lehnte die Bundespost jedoch ab, woraufhin der Frankfurter März-Verlag zur Selbsthilfe griff und eigenmächtig eine Lenin-Marke mit dem Aufdruck "Deutsche Bundespost" in Umlauf brachte, was ein Gerichtsverfahren gegen den Verlag nach sich zog. 1972 produzierte auch Brehmer – allerdings nicht als bewußte Fälschung, sondern als politisches Statement in künstlerischer Form – eine Marke in Siebdrucktechnik mit Lenins Portrait und dem auf Internationalität zielenden Aufdruck "République Française", wofür es aber ebenfalls kein echtes Vorbild gab. Dem Hamburger Arbeiterführer Ernst Thälmann, der 1944 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde, hat die Deutsche Bundespost ebenfalls nie eine Briefmarke gewidmet. Deshalb entwarf Brehmer 1971 eine "Thälmann-Marke", die als Jahresgabe für den Kunstverein in Hamburg erschien.

Nur einmal sollte Brehmer scheinbar echte Postwertzeichen in entsprechender Markengröße herausgeben: Anläßlich der 4. documenta produzierte der Künstler 1968 den documenta-Block, einen Bogen mit neun Marken, auf denen der Portikus des Kasseler Fridericianum abgebildet ist. Über dem Gebäude weht in sozialistischem Rot eine große Fahne, die von zwei starken Arbeiterhänden gehalten wird. Alle Marken haben eine Perforation am Rand und weisen eine rückseitige Gummierung auf. Dieses Gebrauchswertversprechen wurde von einigen Sammlern wortwörtlich genommen, indem sie die Marken aus dem Bogen heraustrennten, auf Postkarten klebten und sie verschickten. Selbst einige Postbeamten reihten sich in diesen Partizipationsreigen ein und stempelten die angeblichen Postwertzeichen ab, beförderten also die Karten nichtsahnend weiter.

IX
Briefmarken wurden und werden seit ihrer Erfindung 1840 immer wieder auch in den Dienst nationalstaatlicher Propaganda gestellt, da sie bestens als Träger politischer Werbung geeignet sind. Besonders im "Dritten Reich", in der Sowjetunion und in der DDR wurden alle Möglichkeiten der herrschaftlichen Selbstdarstellung und der meinungs- und gesinnungsbildenden Propaganda auf Postwertzeichen ausgeschöpft.  Besonders im Faschismus fungierten Briefmarken auf direkte Weise als ideologische Zeichenträger und psychologische Kampfmittel. Von daher kann es nicht verwundern, daß die ideologischen Gegner zu den gleichen Mitteln griffen, um der Propaganda und Agitation des Kontrahenten auf demselben Wege entgegenzuarbeiten. Berühmt sind in dieser Hinsicht die Markenfälschungen der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs, bei der die ursprüngliche Aussage deutscher Postwertzeichen verändert wurde. So verwandelten zum Beispiel die Amerikaner Hitlers Portrait auf der Zwölf-Pfennig-Dauermarke in einen Totenkopf und veränderten die Inschrift "Deutsches Reich" in "Futsches Reich".

In den 30er Jahren hat sich auch John Heartfield des Mediums der Briefmarke angenommen. Wie kein anderer deutscher Künstler hat er mit seinen Arbeiten den Faschismus demaskiert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Mit der von ihm bereits 1917/18 entwickelten politischen Fotomontage nutzte er das "Foto als Waffe"  (Heartfield), als radikales und sinnfälliges Instrument politischer Aufklärung und revolutionärer Agitation. Die in Berlin erschienene "AIZ" (Arbeiter-Illustrierte-Zeitung), die zweitgrößte deutsche Illustrierte der Weimarer Republik, bot Heartfield für seine Arbeiten ein äußerst wirksames Forum. Am 4. Januar 1934 veröffentlichte er in dieser Zeitung eine Fotomontage, überschrieben mit dem Titel "Ab 1. Januar neue Briefmarken im Dritten Reich". Die Seite zeigt in starker Vergrößerung ein aufgeklebtes und abgestempeltes Postwertzeichen mit einem grimmig schauenden Nationalsozialisten in Uniform. Statt der Postwertangabe von 5 Pfennig ist zu lesen: "5 Tausend Tote", und unter dem von zwei Hakenkreuzen flankierten Portrait steht: "Dritte Reichspest". Indem Heartfield einerseits mit der scheinbaren Authentizität seines "Postwertzeichens" spielt und andererseits die Fiktionalität des Bildes deutlich macht, kann er auf eindeutig satirische Weise die politische Situation versinnbildlichen und angreifen.

Heartfields "operative Kunstauffassung, mit der Kunst nicht in der Abgeschiedenheit der Museen wirken zu wollen, sondern im politischen Alltag der Straße und der Massenmedien eingreifend tätig zu sein, war für [... die Studentenbewegung der 60er Jahre] ein Grundmodell der Emanzipation einer wirklich demokratischen und sozialistischen Öffentlichkeit" , wie Klaus Honnef und Peter Pachnicke bemerkten. Heartfield wurde in dieser Zeit zu einer politischen und künstlerischen Vaterfigur, so daß seine Arbeiten nicht nur in Kunstbüchern und Ausstellungskatalogen, sondern auch in Raubdrucken, auf Plakaten und in Untergrundzeitschriften erschienen. Brehmer – obwohl ein Bewunderer Heartfields und mit dessen künstlerischer Praxis gut vertraut – war das radikal Spöttische fremd. Zwar können seine Briefmarkengrafiken mitunter Züge des Grotesken oder gar Absurden aufweisen, aber die beißend satirische Art Heartfields entsprach ihm nicht. Für den eigenen politischen Impetus schlug er meist sachlich-ernste oder leicht ironische Töne an. Für letzteres soll abschließend noch ein besonders bemerkenswertes Beispiel gegeben werden.

Hinter der postalischen Portraitierung einer Person steckt allgemein meist die publizistische Absicht einer hoheitlichen Repräsentation, einer Denkmal- oder Vorbildfunktion. Besonders das Bildnis eines Herrschers beziehungsweise eines Staatsführers dient seit den Anfängen der Briefmarke als deutlicher Machtanspruch des Dargestellten. Kulturell bedeutsame Personen wie Schriftsteller, Philosophen, Komponisten oder Maler werden auf  Postwertzeichen hingegen als humanistische Bildungsideale verewigt. Noch lebenden Kulturschaffenden wird diese Ehre üblicherweise nicht zuteil. Die Deutsche Bundespost scheint 1969 dieses Reglement durchbrochen zu haben, da auf einer Briefmarkengrafik Brehmers dessen junger Künstlerkollege Timm Ulrichs zu sehen ist, der im strengen, scharfgeschnittenen und damit klassisch anmutenden Profil erscheint. Außerdem ist der Aufdruck "Deutsche Bundespost" sowie ein Poststempel zu erkennen, der wiederum wie ein Signum des Authentischen zu belegen scheint, daß es sich bei dem Klischeedruck um die Monumentalisierung eines echten Postwertzeichens handelt. Die Marke ist jedoch erneut ein alleiniger Entwurf KP Brehmers, der damit Timm Ulrichs zum exemplarischen Vertreter eines zeitgenössischen Künstlertums geadelt hat. Sein Portrait artikuliert einen Geltungsanspruch auf künstlerische Bedeutsamkeit und gesellschaftliche Relevanz, wobei dieser Anspruch zwangsläufig als aussichtsloses Wunschdenken erscheinen muß. Denn die Absurdität der scheinbar so nüchtern vorgetragenen Vorstellung, schon zu Lebzeiten über die Geschichte triumphieren und sich dem kollektiven Gedächtnis überantworten zu können, wird besonders deutlich, wenn man das Alter des Dargestellten bedenkt: Timm Ulrichs war 1969 gerade mal 29 Jahre alt.

Wenn Brehmers Grafik also einen vergeblichen Geltungsanspruch visualisiert, und wenn das Begehren im Bewußtsein eines unausweichlichen Scheiterns ausgesprochen wurde, so kann dieses trotzige "Dennoch" als eine ironische Anspielung auf überzogene Künstlerträume erscheinen. Gleichwohl erscheint diese Arbeit aus heutiger Sicht als ein zeittypischer, aber doch auf seine Eigenheit beharrender Ausdruck für ein künstlerisches Bedürfnis oder Verlangen nach einer gesellschaftlich integrierten Position, der eine selbstverständliche politische Verantwortlichkeit, konkrete soziale Handlungsfähigkeit und Progressivität eigen sein sollte. Die letztendlich sich darin manifestierende selbstreflexive Frage nach der möglichen gesellschaftlichen Rolle und Bedeutung eines Künstlers hat – wenn auch unter anderen historischen und gesellschaftspolitischen Vorzeichen – nichts von ihrer grundlegenden Relevanz eingebüßt.