Barbara Heinrich
Elly, Goya und die anderen

„Ich sehe in der Kunst, neben der Wissenschaft und der Philosophie, ein Instrument zur Aneignung von Wirklichkeit." 1)

Nachdem 1963 die Aktion Eine Demonstration für den Kapitalistischen Realismus von Konrad Lueg und Gerhard Richter in einem Düsseldorfer Möbelhaus stattgefunden hatte, war ein (zunächst ironisch gemeinter) Begriff für eine Kunstrichtung gefunden, die sich kritisch mit der gesellschaftlichen und politischen Realität der Zeit auseinandersetzte. Zum Kreis der Künstler zählten zunächst die oben erwähnten sowie Sigmar Polke und Wolf Vostell, später auch KH Hödicke und KP Brehmer.
Angesichts der massenhaften Verbreitung von Bildern durch die modernen technischen Medien und die kommerzielle Werbung stellte sich die Frage, ob und wie eine autonome Kunstproduktion angesichts der Besetzung und Manipulation ästhetischer Formen und Zeichen überhaupt noch möglich sei. Die künstliche Welt der reproduzierten Bilder wurde diesen Künstlern zur Motivvorlage - es ging ihnen um die Entlarvung eben dieser Künstlichkeit und der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Phänomene sowie um die Schaffung eines neuen, kritischen Verhältnisses zwischen Bild und Betrachter.
Auch KP Brehmer, ausgebildeter Repro-Techniker, verwendet für seine Arbeiten Vorlagen aus Zeitschriften und Reklameprospekten, um die darin enthaltenen Stereotypen offenzulegen. Bereits in den Klischee-Tondrucken von 1964/65 tauchen als immer wiederkehrendes Motiv Menschen auf. Klischee kann hier im doppelten Sinne verstanden werden - als drucktechnisches Verfahren einerseits und als inhaltliche Darstellung bestimmter Vorstellungen andererseits.

Am Beispiel der Begriffe Männlichkeit / Weiblichkeit und deren Besetzung durch die öffentlichen Bilder soll Brehmers Vorgehensweise erläutert werden. In den vom Künstler ausgewählten Vorlagen sehen wir immer wieder Sportler, Astronauten und Politiker, kurzum mutige und sich ihrer Aufgabe bewußte Kämpfer, die bleibende Leistungen für die Gemeinschaft erringen. Hier werden Männer zu Helden stilisiert und als Idole präsentiert, die es zu bewundern und denen es nachzueifern gilt. Die derart dargestellten Männer sind reine Funktionsträger und als Individuen nicht mehr auszumachen.
Die Arbeit Ohne Titel (1965) zeigt, daß hinter diesem hehren Bild vom Mann eine beklemmende Realität steckt. Auf dem Blatt sind, links und rechts vom Bild eines Astronauten, zwei Fernsehschirme zu sehen. Der linke zeigt einen Läufer sowie eine Frau im Korsett mit Blumenstrauß. Links der Frau lesen wir „no", rechts des Mannes „on" sowie unter beiden die Zeile „Vorschau auf das Fernsehprogramm". Der rechte Fernsehschirm zeigt einen Radrennfahrer und eine Heuschrecke sowie eine Raumfähre. Im unteren Teil des Blattes ist die Abbildung eines elektrischen Sicherungskastens zu sehen sowie ein Militärhubschrauber und zwei Eishockeyspieler im Clinch. Von rechts ragt eine Männerhand ins Bild, die über einen graphischen Halbkreis und einen Pfeil mit Hubschrauber und Eishockeyspielern verbunden ist. Die gepriesenen Ideale von Leistung und Fortschritt gehen einher mit Krieg, Zerstörung und hinterlassenen Opfern.
Indem Brehmer die Vorlagen aus ihrem ursprünglichen Kontext löst und in Collagen neu zusammensetzt, nimmt er den bis dahin als eindeutig empfundenen Klischees eben diese Eindeutigkeit und weist auf ihre „Gemachtheit" hin. Die Trennung von Form und Bedeutung eröffnet dem Betrachter die Möglichkeit eigener Interpretationen und Sehweisen und läßt den Blick auf die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit hinter den Bildern zu. Darüber hinaus entlarvt die Technik der Collage, daß die implizierte Realitätsnähe der Fotografie nur eine scheinbare ist. Tatsächlich handelt es sich bei den medialen Bildern immer nur um Ausschnitte, die beliebig zusammengesetzt (manipuliert) werden können und die Wirklichkeit verzerren.

Auch das Bild der Frau, das uns die Medien, vor allem aber die Werbung, präsentieren entspricht dem des klassischen, tradierten Klischees von der Frau als Verführerin. Nur allzu bekannt sind die Bilder leicht bekleideter Frauen, die in aufreizenden Posen für allerlei Produkte der Industrie werben, um diese an den Mann zu bringen. Das sinnliche Versprechen der weiblichen Modelle wird gleichgesetzt mit dem sinnlichen Vergnügen an der Ware; die Frauen werden degradiert zum Objekt sexueller Begierde. Ihre Verfügbarkeit entspricht der Verfügbarkeit der Waren. Diesen Prozeß der sexuellen Ausbeutung und Erniedrigung führt Brehmer vor, indem er wiederum die Vorlagen aus dem gegebenen Zusammenhang löst. Ohne Titel von 1964 zeigt zum Beispiel ausschließlich einige halbnackte Frauen. Die Entkoppelung des Bildes von der Ware läßt nur noch den voyeuristischen Blick zu, der als sexuell begehrlich und degradierend entlarvt wird. Aber der Künstler geht noch einen Schritt weiter. Er kaschiert die Klischeedrucke auf Pappe und montiert und faltet sie zu Aufstellern und Schachteln, die optisch den Werbe-Displays und Warenverpackungen der Industrie ähneln. In Aufsteller 7 (1965) kombiniert Brehmer das Porträt einer jungen Frau mit drei Männerhänden, die sich ihr entgegenstrecken und zeigt somit drastisch, welcher Art die Begehrlichkeiten sind. Noch deutlicher wird er mit Aufsteller 13 (1965), der auf der Rückseite notiert folgende Gebrauchsanweisung gibt:

1.  Finden Sie Fräulein F.
2.  Stellen Sie diesen Aufsteller neben Fräulein F.
3.  Entkleiden Sie Fräulein F. (bis auf Weniges)
4.  Beschäftigen Sie sich mit dem Einfädler.

 In anderen Aufstellern und Schachteln fügt Brehmer den Bildern wieder Waren bei - Accessoires wie Strumpfhalter, Halstücher und Höschen, denen selbst ein erotisches Moment innewohnt. Oder er führt den Prozess der Koppelung von Objekt und Ware ironisch vor, indem er dem Bild von Autos auf dem Schrottplatz Lockenwickler zuordnet oder einen gestandenen Eishockeyspieler für Strumpfhalter werben läßt. Und er gibt den Frauen ihren Namen zurück (Elly, Rosi, Graziella) und macht sie damit wieder zu Subjekten.
Daß es sich bei den verwendeten Bildern wieder um bereits vorhandenes Material handelt, macht Brehmer bei den Aufstellern und Schachteln häufig durch die Vergrößerung deutlich, durch die die Rasterpunkte des Zeitungsdrucks sichtbar werden. Das Raster wirkt darüber hinaus als gestaltendes Element, indem es die Flächen strukturiert und sie zugleich zum Verschwimmen bringt. Durch diese Balance zwischen Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit wird die vermeintliche Eindeutigkeit des Bildes aufgegeben und Raum geschaffen für neue Deutungen.

Mit den frühen grafischen Arbeiten, von Brehmer auch „Trivialgrafik" genannt, gelingt es ihm auf eindrückliche Weise, die Instrumentalisierung von Menschen durch Medien aufzuzeigen. Die Reduzierung von Subjekten zu Objekten geht einher mit dem Verlust sinnlicher Wahrnehmung, denn die Wirklichkeit wird nicht mehr erlebt, sondern nur noch durch Bilder vermittelt. Auch der Betrachter wird zum Objekt - zum (fremdbestimmten) Konsumenten von Bildern und Waren. Aufgabe der Kunst muß es sein, diese Mechanismen kritisch zu reflektieren - „Kunst ist immer eine Reflexion der gesellschaftlichen Situation". 2) Die Visualisierung gesellschaftlicher Prozesse ist bei Brehmer verknüpft mit der Aufforderung an den Betrachter, sich nicht auf die vorgegebenen Bilder zu verlassen, sondern wieder handelndes Subjekt zu werden - zu fragen, zu forschen und zu entdecken.
„Ich versuche, die Dinge möglichst objektiv zu machen und mich selbst rauszuhalten. Das andere bleibt nachher beim Betrachter... Ich kann ihm nur einen Anstoß geben, und im Idealfall wird er sich äußern, oder er wird selber aktiv werden." 3)

Was aber macht das handelnde Subjekt, was macht Individualität aus? Neben der vielzitierten Ratio sind es doch vor allem Gefühle und Empfindungen. Aber wie lassen sich diese objektiv feststellen bzw. ästhetisch darstellen? Lassen sie sich, unabhängig von herrschenden Klischees, überhaupt darstellen? Eine Möglichkeit scheinen für Brehmer die Methoden der Beobachtung und Befragung zu bieten, wie sie auch die Wissenschaft kennt (z. B. die Soziologie).
Ausgehend von den Untersuchungen von Ford und Hersley, die einen Arbeiter ein Jahr lang an seinem Arbeitsplatz beobachtet und täglich zu seinen Gefühlen befragt hatten, konzipiert Brehmer 1978-81 die Serie Seele und Gefühl eines Arbeiters. Sie besteht aus zwei großformatigen Diagrammen (1978 in London entstanden), einer 42-teiligen Serie von Zeichnungen (1980), 3 Bildern mit dazugehöriger Farbskala (1980) sowie den Materialien zu einer Partitur (1981) und der Partitur selbst. Die Skala der Befragung von Ford und Hersley reichte von „sehr glücklich" über „neutral" bis „ängstlich". Brehmer ordnet diesen Gefühlsäußerungen Farbwerte zu und stellt diese in Form von Diagrammen dar. Einer ähnlichen Vorgehensweise hat er sich auch in seinen Tagebüchern (1974-76) bedient, z. B. dem New Yorker Tagebuch (1976). Basierend auf Selbstbeobachtung untersucht Brehmer seine tägliche Einstellung zu den Punkten Arbeit (blau), Gesundheit (grün), Geld (gelb) und Gefühl (rot) auf einer Skala von „glücklich" über „neutral" bis „ängstlich" über einen Zeitraum von jeweils mehreren Tagen und notiert sie in Form von Strichdiagrammen. In den genannten Arbeiten wird die Farbe zum Träger von Gefühlswerten, wobei der Charakter der Bilder und Zeichnungen einer tabellarischen Aufzeichnung entspricht. Der Mensch erscheint hier lediglich durch die Darstellung seiner objektivierten Gefühlswelt.

Eine völlig andere Handschrift tragen die Arbeiten aus dem Komplex der Wärmebilder, die seit Mitte der 70er Jahre entstehen. Der Gestus ist expressiv, die Farben scheinen ein Eigenleben auf der Leinwand zu führen, und plötzlich ist der menschliche Körper das zentrale Motiv. Doch Vorsicht ist geboten. Bereits auf einem frühen Bild dieses Arbeitskomplexes, dem Akt (1975) warnt Brehmer: „Dies ist kein modernes Gemälde, sondern ein ‘Wärme-Foto’." Und tatsächlich gehen auch diese Bilder auf bereits vorhandenes Material zurück, nämlich sogenannte Thermografien der medizinischen Diagnostik. Hierbei wird mittels wärmeempfindlicher Kameras die Wärmeabstrahlung von Körpern in unterschiedlichen Erregungszuständen aufgenommen. Und wieder wird der Mensch zum Objekt - zum Testobjekt der Wissenschaft, die Gefühle als physikalische und chemische Prozesse definiert, die sich in Quantitäten messen lassen. Analog der Entfremdung des Menschen von sich selbst durch die medialen Bilder stellt sich hier die Frage nach der Entfremdung von der eigenen Körperwahrnehmung durch die Bilder der Wissenschaft. Kein Ausweg?
Auf den Fotos, die Brehmer als Vorlage dienen, zeichnen sich die wärmsten Stellen rot ab, die kältesten blau; dazwischen gibt es noch Abstufungen in gelb und grün. Wir finden diese Farben in Brehmers Wärmebildern wieder, wie etwa der dreiteiligen Arbeit Über die Bilder (1979). Gezeigt werden Durchblutungsmuster der Großhirnrinde (ausgehend von Untersuchungen durch Lassen, Ingvar und SkinhØy) beim Ansehen von und Sprechen über Bilder. Je nach Art der Tätigkeit (Sehen, Sprechen, Gestikulieren) sind unterschiedliche Regionen des Gehirns durchblutet. Die Farbe ist flächig mit dem Pinsel aufgetragen, die wissenschaftliche Vorlage bleibt durch die Rasterung der Oberfläche erkennbar. Dieses Raster findet sich auch in dem Bild Paar (1978/79). Allerdings beginnen sich die Konturen, sowohl der Figuren als auch des Rasters, aufzulösen und lassen sich nur noch schemenhaft wahrnehmen.
Diese Auflösung bzw. Fragmentierung des Körpers setzt sich in Bildern wie Goya (1986) fort, wobei eine Fragmentierung im doppelten Sinn stattfindet. Zu sehen ist ein Männerkopf im Profil ohne Körper, während der Legende zum Bild zu entnehmen ist, daß in realitas Goyas Körper ohne Kopf beerdigt wurde. Dieser existiert nur noch als Abbild, nämlich in Form eines Bildnisses des Totenschädels, das im Museum der Stadt Saragossa hängt. Brehmers Porträt von Goya ist kein Porträt im eigentlichen Sinne; es ist vielmehr das Abbild eines Bildes im Kopf des Künstlers. Außerdem lassen sich lediglich die Kontur, aber keine individuellen Züge der porträtierten Person ausmachen. Im Unterschied zu den vorherigen Bildern hat sich die Art des Farbauftrages geändert. Es finden sich unterschiedlich große und unterschiedlich dicke Farbflächen, die ineinander verlaufen. Zu den ursprünglichen vier Farben der Vorlagen gesellen sich jetzt weitere Farben. Die Farben treten zunehmend in den Vordergrund und gewinnen an Eigenwert. Sie bekommen in Brehmers Malerei eine andere Qualität als in den wissenschaftlichen Vorlagen, in denen sie nur Bedeutungsträger für unterschiedliche Wärmegrade waren. Sie werden von der Form gelöst und wirken aus sich heraus; ihre Bedeutung wandelt sich hin zu einer ihnen immanenten Symbolik. In der Arbeit In den Arm nehmen (1985), die bei genauerem Hinsehen ein Paar zeigt, sind die Konturen der Figuren fast vollständig aufgelöst. Die Farben gewinnen durch die Art des Auftrages zusätzlich an Dynamik. Sie sind geschüttet und getropft, unterschiedlich dick und ineinander verlaufend. Der Auftrag ist teilweise so dick, daß die Oberfläche aufreißt. Die Farben verlassen die Zweidimensionalität der Leinwand und ragen quasi in den Raum. Sie bekommen so eine haptische Qualität, sie lassen sich sinnlich „empfinden". Durch diese Behandlung der Farbe findet eine Rückübersetzung statt. Vor die rationale Wahrnehmung des Dargestellten schiebt sich ein unmittelbares Empfinden, eine assoziative Wahrnehmung, und in diesem freien Spiel der Assoziationen öffnet sich für den Betrachter ein Raum zum Erleben eigener Gefühle und das Nachdenken über eigene Befindlichkeiten. In diesem Sinn sind die Wärmebilder KP Brehmers in höchstem Maße poetisch, denn sie verweisen auf eine Wirklichkeit jenseits des gemachten Bildes.

1) KP Brehmer in: Kunst im politischen Kampf. Aufforderung - Anspruch - Wirklichkeit. Kunstverein, Hannover, 1973
2) KP Brehmer in einem Interview mit Werner Rhode, erschienen im Ausstellungskatalog KP Brehmer, Kunstverein, Hannover, 1971
3) Ebd.