Nicht hier, nicht jetzt: Zeit im Film
von Vanessa Joan Müller

Im Film erweist sich die Vergangenheit, die gegenwärtig ist, als das Vergangensein der Gegenwärtigkeit selbst, als die Zeit selbst ...
(Stanley Cavell: Welt, durch die Kamera gesehen)
 
Kein Actionfilm ohne Explosion - Autos, Häuser, Yachten, ganze Straßenzüge verwandeln sich binnen Sekunden in ein flammendes Inferno. Die schönste Explosion der Filmgeschichte entfaltet sich jedoch jenseits dieser Matrix pyrotechnischer Beschleunigung als Ästhetik der Destruktion in Slow Motion, wenn in Michelangelo Antonionis Zabriskie Point  am Ende eine Kapitalistenvilla detoniert, um das Terrain zu ebnen für die Utopie einer Welt jenseits des Materialismus. Diese Explosion ist nur fiktives Wunschdenken und findet allein in der Vorstellung statt als imaginäres Szenario. Doch der Film läßt das Virtuelle Wirklichkeit werden und probiert einfach aus, wie wunderbar es wäre, wenn Kühlschrank, Polstersessel, Fernseher sich vor der Kulisse eines tiefblauen Himmels ganz langsam in ihre Einzelteile auflösten. Sieben Minuten Zerstörung pur in präziser Zeitlupe als Materie, die im explodierenden all-over bunter Farbpartikel die Gegenstände von dem zwanghaften Willen zur Norm befreit. Die Langsamkeit selbst wird so zur Sinnmaschine, die die Signifikanz der Repräsentation aufhebt in der Irrealität der Zeit: Das Unmögliche möglich machen im Sehen dessen, was real nie sichtbar sein wird.
Ein wesentlicher Aspekt, der zu dieser Dekonstruktion konventioneller Wahrnehmungsparameter beiträgt, ist das eigentlich kinematographische Moment der Zeit, das als abstrakte Struktur, Determination des Ästhetischen und Verdichtung des Sichtbaren in der zeitlichen Extensität wie bildlichen Intensität erkennbar wird. Denn letztlich ist das Kino ein kinematischer Apparat, der in der mechanischen De- und Rekomposition der Bewegung als bewegtes Bild und seiner fotomechanischen Aufnahmequalität als Möglichkeit differenzierter Bilderzeugung auch zur Wahrnehmung der Zeit als Sichtbarkeit des Unsichtbaren beigetragen hat. Genau wie der isotrop in alle Richtung sich ausdehnende Raum läßt sich die Zeit optisch an sich nicht erfassen; erst die physikalische Relation von Raum und Zeit schafft die sichtbare Wirklichkeit. Weil er in seiner Struktur geradezu prädestiniert scheint, dieses physikalische Raum-Zeit-Konstrukt aufzulösen in der Dynamisierung des Raums und der Verräumlichung der Zeit, gilt der Film als genuine Kunstform der Moderne. Das betrifft nicht nur die filmischen Modalitäten, den Raum zu fragmentarisieren, ohne daß sich dieser additiv wieder zu einem Ganzen fügt. Auch der Modus der Zeit als Nacheinander von Augenblicken kann durch Montage, die sukzessive Präsentation des Simultanen, durch Rückblenden oder Zeitlupen auf neue Weise konjugiert werden. Erst durch diese Nähe der Dinge zueinander in der Zeit und Ferne voneinander im Raum konstituiert sich jene spezifische Zeit-Räumlichkeit als Zweidimensionalität der Zeit, die das eigentliche Wesen des Films markiert.1
Seine Erscheinungsform ist zwar die jenes Kontinuums, das auch das des Sehens ist, an sich besteht jeder Film jedoch aus unzähligen Einzelbildern oder fixierten Augenblicken, in denen sich auch das Konstrukt des Augenblicks selbst manifestiert, das eine doppelte Bedeutung besitzt, eine zeitliche und eine visuelle: Der zeitliche Augenblick ist immer auch eine Wahrnehmungs-Metapher, denn als idealisierte Zeitspanne verweist er auf jenen Zeitraum, den das Auge benötigt, ein Objekt der externen Welt zu erfassen. Doch die menschliche Wahrnehmung konstituiert sich nicht aus der Addition distinkter Augenblicke; der Akt des Sehens entfaltet sich erst in der wahrnehmenden Dauer. Das Konzept des Augenblicks markiert insofern den idealistischen, auf Wirklichkeitsaneignung abzielenden, aber letztlich irrealen Versuch, einen Punkt der Wahrnehmung bzw. der Zeit aus dem Kontinuum der Bewegung zu isolieren. Genau diese Vorstellung des Augen-Blicks bestimmt jedoch das Konzept des Films, der sowohl die Zeit fixiert und konserviert als vergangene, im Prozeß der Projektion jedoch wieder vergegenwärtigte, als auch den Blick als Blick des Kameraauges festhält, der dann im Auge des Zuschauers reaktiviert wird. Damit ist der Film in seiner Materialität als Abfolge statischer Schnitte der Bewegung 2 der doppelten Codierung des Augenblicks verpflichtet: „das Einzelbild ist letztlich der Ort, an dem Zeit und Sehen punktuell fixiert - als zum Augenblick geworden - aufeinandertreffen". 3 In seiner unbestimmten Dauer, die aus einer großen Anzahl einzelner Fotografien besteht, ist der Film pure Illusion; 24 fotografische Bilder pro Sekunde zu sehen bedeutet, sie nicht mehr zu sehen und der optischen Täuschung jener „natürlichen Wahrnehmung“ zu unterliegen, die es im Dispositiv Kino niemals geben kann. Auch wenn immer die Rede vom filmischen Bild ist, ist dieses deshalb im eigentlichen Sinne gar kein Bild, in dem das stillgestellte Kontinuum der Zeit seinen Ausdruck findet. Film entwickelt sich vielmehr erst aus der Negation des Bildbegriffs als statisches Konstrukt. Seine eigentlich plastische Tiefenwirkung gewinnt der Film in der Zeit; die Zeit selbst von ihm wird als Perspektive reproduziert. 4 Die eigentliche Dauer des Film liegt deshalb in der für das menschliche Auge unsichtbaren Bewegung zwischen den Bildern. Diese Bewegung wird intuitiv erfahren, ist für den analytischen Verstand jedoch nicht rekonstruierbar, denn das Wissen um die kinematische Mechanik wird von dem subjektiven Erleben der Zeit im Film immer wieder widerlegt. Die Bewegung vollzieht sich ja nicht als syntagmatische Reihung distinkter Bilder, sondern als ständige Überlagerung analoger Formen in der Zeit durch die apparative Bewegung der Kamera bzw. des Projektors, die eine eigene, von der Realität abstrahierende Zeit konstituiert.
Künstler wie Douglas Gordon entziehen in Auseinandersetzung mit diesem apparativen Erscheinen des filmischen Bildes dem Medium deshalb ganz bewußt die Lebensgrundlage - bei einer Dehnung des Bildintervalls auf nur zwei Bilder pro Sekunde erkennt das Auge die Täuschung, daß die kontinuierliche Bewegung allein aus der Abfolge von in sich statischen Einzelbilder resultiert. Das langsame Nacheinander der Bildsequenzen, in denen die fließende Bewegung ersetzt wird durch die diskontinuierliche Abfolge einzelner Photogramme, führt jedoch andererseits zu einer Neuordnung der Sichtbarkeit jenseits des Narrativen. So gesehen, dispensiert die tödliche Verlangsamung den Film von jenen Anschauungsgewißheiten der kinematographischen Codes und Konventionen, die als semiotisches Raster die Bilder überziehen und für ihre Dechiffrierung sorgen, um statt dessen eine neue Matrix der Sichtbarkeit in der Zeit  zu produzieren. Die Zeitlupe in 24 Hours Psycho beispielsweise verlagert den Fokus auf jene Virtualität des Bildes, die in der normalen Projektionsgeschwindigkeit verborgen bleibt. Anstatt die Psychologie der Erzählung in der Chronologie der Narration zu verorten, lokalisiert Gordons Version des Hitchcock-Films sie in den zeitlich komprimierten Bildern jenseits der Evidenz und substituiert den sinnstiftenden Effekt der Verkoppelung der Bilder durch die ikonische Verdichtung in dem sichtbar in Bewegung versetzten Photogramm.
Doch auch die narrative Ordnung der Dinge im konventionellen Spielfilm operiert geradezu avantgardistisch mit der Ontologie der Zeit, die sie verwandelt, verlangsamt, beschleunigt oder modifiziert. Nicht nur stellt sie die Zeit als das unumkehrbar Sukzessive in Frage, auch zwischen der zeitlichen Struktur des subjektiven Erlebens und der objektiv meßbaren Zeit inszeniert sie einen nicht aufzufüllenden Riß. Zwar ist der Faktor Zeit als aktuelle Projektionszeit unmittelbar erfahrbar, die Koordinaten, entlang derer die Zeit sich als repräsentierte entfaltet, verlaufen jedoch entlang der Achsen einer Narration, in denen die Chronologie ihre Eigendynamik entwickelt. Die dargestellte Zeit im Film entspricht eigentlich fast nie der erlebten Zeit und Dauer der Wahrnehmung; in bezug auf den von ihm vermittelten Zeitbegriff bleibt das bewegte Bild immer ambiguitiv. Schon in den frühen Stummfilmen gibt es deshalb diese charakteristischen Szenen, in denen die mechanische Zeit als Korrektiv in die Handlung eingreift, Szenen, in denen Kalenderblätter von unsichtbarer Hand abgerissen werden, die Zeiger von Uhren symbolträchtig voranschreiten oder die Jahreszeiten zum Einsatz kommen, um zu zeigen, daß in wenigen Sekunden ein ganzes Jahr vergangen ist. Selbst in Fred Zinnemanns Western-Klassiker High Noon, einem der frühesten Filme, in denen sich die Handlung fast in Echtzeit abspielt, werden dauernd Uhren in Großaufnahme gezeigt, um dem Zuschauer zu sagen, wie spät es ist. Nur so funktioniert die Dramaturgie, denn auch hier entfaltet sich die Handlung nicht in epischer Linearität, sondern in tragischer Momenthaftigkeit als Addition exponierter Situationen, die als prospektive Wiederholung des finalen Augenblicks erscheinen - symbolisch ist es in High Noon permanent fünf vor zwölf. Und auch wenn es sich ganz offensichtlich um einen Film in Echtzeit handelt, bei dem Handlungs- und Wahrnehmungszeit parallel laufen, bemächtigt sich die Zeit des Bildes und ersetzt die chronometrische Zeit durch die Zeit subjektiven Empfindens. In Andy Warhols Endlosfilmen dehnt schlichtweg die Langeweile die Dauer. Als de facto statisches Bild in der Zeit bleibt der Wolkenkratzer in Empire unverändertes Bild seiner selbst, während die Identität von dargestellter Zeit und Wahrnehmungszeit dem Temporalen eine Autonomie zuteil werden läßt, die es als abstrakte Kategorie erlebbar macht. Acht Stunden Film, und kein Kairos in Sicht.

I.
Normalerweise entsteht die sichtbare Zeit im Film durch Sukzession, durch das Vorher und Nachher der Bewegung, die wiederum durch die Technik der Montage entsteht. Diese konstituiert das Ganze und liefert damit ein Bild der Zeit, in dem die Zeit durch das Nacheinander distinkter Einstellungen repräsentiert wird. Gilles Deleuze, der in Auseinandersetzung mit der Philosophie Henri Bergsons versucht hat, eine Theorie der Zeit als Poetologie und Taxinomie nicht des Kinos, sondern des kinematographischen Bildes zu entwerfen, nennt diese für das klassische Kino charakteristische Zeitvorstellung das Bewegungs-Bild, das ein indirektes Bild der Zeit vermittelt. Innerhalb einer narrativen Ordnung erscheint diese indirekte Zeitdarstellung relativ unproblematisch: In der Retrospektive wird die Zeit zurückgedreht, im Erinnerungsbild wiederholt, in der Zukunftsvision übersprungen. Simultane Vorgänge können nacheinander, zeitlich auseinander liegende hingegen gleichzeitig gezeigt werden; das Frühere kann später, das Späterer früher erscheinen. Tatsächlich verbirgt sich hinter der Signifikanz der Rückblenden, Zeitlupen und verschachtelten Montagen jedoch ein Problem der Perspektive, da die Voraussetzung dieser Regeln filmischer Narration die Vorstellung der Zeit als konsistente homogene Sphäre ist, die sich in strikter Relation zum Kontinuum der Erzählhandlung darstellen läßt. Damit erscheint die im und durch das Bild zur Anschauung gebrachte Zeit jedoch als bloße Funktion des gegebenen, homogenen Raums mit der stets gleichen Qualität der linearen, mathematischen Zeit. Repräsentiert im Präsens des filmischen Erzählens und mit dem präsentischen Blick der Kamera, entfaltet sich die Zeit nur als chronometrische Gliederung eines Vorher und Nachher in bezug zum homogenen „Jetzt“ des Erzählens.5 Im Zeitalter des Experimentierens tritt Deleuze zufolge deshalb ein anderes Moment in den Vordergrund filmischer Praxis, das Zeit-Bild, das die Zeit aus ihrer Abhängigkeit von der Bewegung befreit. Die Montage der Einstellungen bestimmt „die Beziehung der Zeit ... in der Sukzession der Bilder", die Einstellung hingegen „die Form oder vielmehr die Kraft der Zeit im Bild."6 Im Zeit-Bild präsentiert sich die Zeit als reines Bild, eine pure Darstellung der Zeit, in der diese nicht mehr bloßes Derivat der Bewegung ist, sondern die abweichende Bewegung zur Perspektive der Zeit wird.7 Jetzt gerät die Zeit permanent aus den Fugen; sie kippt aus der Chronologie des Realen und bricht mit der Verankerung in der Bewegung. Dieses neue Zeit-Bild ist die reine optische und akustische Sensation. Vor allem die „falschen Anschlüsse“, bei denen die Logik der Zeit außer Kraft gesetzt scheint - Jean-Luc Godard ist Meister dieser Attentate auf die Langeweile des Linearen - erweisen sich als nicht-lokalisierbares, reines Bild der Zeit. Die sprunghafte Montage von Bildern, deren Verkettung nicht der Chronologie oder Kausalität verpflichtet ist, sondern sich aus innerbildlichen Äquivalenzen ergibt, gibt dem Bild in seiner Diskontinuität und potentiellen Reversibilität die Zeit zurück. In der produktiven A-Logik resultiert der Eindruck verfließender Zeit nicht mehr aus der Bewegung, sondern hat sich befreit von der Empirie des zeitlichen Verlaufs, der Trennung in Vorher und Nachher.
Ein typisches Zeit-Bild ist z.B. die Großaufnahme eines Gesichts, in der die Zeit in der Dauer des Jetzt praktisch zum Stillstand kommt. Dieses Empfindungsbild bringt eine neue, eine von der Alltagswahrnehmung divergierende ästhetische Wahrnehmung hervor, die einen eigenen Zeithorizont bildet und das offene Feld des Sichtbar-Werdens von Wirklichkeit neu vermißt. In der Zeitgestaltung dieser kinematographischen Montage ist das Sehen folglich eingespannt zwischen Alltagswahrnehmung und einem erst filmisch sich konstituierenden Raum des Entstehens neuer Sichtbarkeiten.8 Das kinematographische Bild im Zeichen der Zeit wäre somit ein ästhetisches Konstrukt und eine autonome Bildwirklichkeit - keine Wirklichkeit und auch kein Chronos gehen ihr voran, die ihm zu entsprechen vermögen.

II.
Doch was ist eigentlich mit der Zeit des Mediums selbst, dem Zeitfaktor seiner apparativen Struktur? Bisher war vor allem die Rede von der Zeit im Film als direkte oder indirekte Repräsentation der Zeit. Zerlegt man die ÑZeit im Filmì in ihre verschiedenen Aspekte, ergibt sich eine temporäre Schichtung aus der Projektionszeit, der Wahrnehmungszeit und der Handlungszeit, die in der Konstruktion des simulierten kinematographischen ÑRealitätseffektsì zusammenfallen. Nur die Handlungszeit ist die eigentlich unabhängige Koordinate, die im Vergleich zur realen Chronologie fast beliebig manipuliert werden kann. Doch sie verläuft nicht nur auf einer völlig anderen Zeitebene als das sichtbare Bild, auch ihre temporäre Lokalisierung ist eine andere, da die Handlung selbst immer bereits der Vergangenheit angehört, während das, was wir auf der Leinwand sehen, sich allein als Spur dieser vergangenen Handlung interpretieren läßt.9 Im Gegensatz zur Fotografie ist das Tatsächliche im Filmbild nicht stillgestellt in seiner momenthaften, auf die Zukunft ausstrahlenden Gegenwärtigkeit, sondern festgehalten in seiner transitorischen Präsenz. Im Film ist Ñdas Bild der Dinge auch das ihrer Dauer"10, das als referentielle Spur die Erinnerung an das Dagewesene bewahrt. Das fotografische Bild entsteht ontologisch aus dem Verlust des Augenblicks heraus, denn es ist die der Dauer entzogene, reine Gegenwart. Das filmische Bild hingegen hält die Zeit nicht an, sondern hebt sie auf in der Präsentation einer immer schon Vergangenheit seienden Gegenwart. Auf der Leinwand wiederholt sich dieser Vorgang als Einschreibung der Spur im Licht der Projektion, wenn die Codierung des Bildes sich in die figurale Bewegung zurückverwandelt. Obschon im Film sich immer alles in der Augenblicklichkeit des Jetzt zu ereignen scheint, sind es eigentlich immer nur Sequenzen des Erinnerns, die man sieht: Der Zeit der gegenwärtigen Erfahrung ist im Film immer schon die Dauer der Vergangenheit eingeschrieben als Gegenwart, die eben gerade nicht gegenwärtig, sondern bereits abgeschlossen ist.
Diese paradoxe Verschränkung der Zeit, in der das Gegenwärtige immer schon vergangen ist,  dieses Vergangensein der Gegenwärtigkeit selbst, hat der amerikanische Philosoph Stanley Cavell zur eigentlichen Zeitform des Kinos erklärt. Im Kino, so Cavell, sind wir bei etwas anwesend, das bereits geschehen ist, was bedeutet, daß der Film weder wirkliche Vergangenheit reproduziert noch eigentliche Gegenwart produziert. Diese grundlegende Differenz zwischen Sehen und Zeigen ist essentiell: Der Ort, an dem das Bild stattgefunden hat und an dem es (von der Kamera) „gesehen“ worden ist, ist nicht der Ort der Projektion, an dem allein reaktiviert wird, was unwiederbringlich Vergangenheit ist. Die Welt des Films zeigt sich dem Zuschauer zwar im Modus der Präsenz, doch der Zuschauer selbst befindet sich zwangsläufig außerhalb dieser Welt. Das Medium Film präsentiert eine mir gegenwärtige Welt, von der ich abwesend bin und stellt sich mir als gegenwärtige Vergangenheit dar, bei der es sich nicht um meine Vergangenheit handeln kann: „Was die Materialität des Films von jeder anderen unterscheidet, liegt in der Abwesenheit dessen begründet, was die Bedingung seines Erscheinens vor uns ist; d.h. in der Modalität unserer Abwesenheit von ihm, in seiner Bestimmung, Realität ... durch Projektionen von Realität zu offenbaren."11 Der Film projiziert die Illusion eines vollständigen Bildes der Welt, in dem die scheinbare Gegenwärtigkeit des Geschehens unaufhebbar mit dem Bewußtsein von Vergangenheit durchsetzt ist.12 Wenn das, was auf der Leinwand geschieht, „real“ erscheint, handelt es sich also eher um ein Prädikat der Zeit als des Seins. Auf paradoxe Weise fallen in der kinematographischen Projektion am Ende so Zeit und Raum wieder zusammen, denn als Fiktion ist der Film stets da und gleichzeitig anderswo, präsent und doch auch anders-wann - ein perfektes Phantom seiner selbst.
Vielleicht ist das auch der Grund dafür, daß gealterte Filmstars so seltsam fremd erscheinen.13 Ihre Präsenz scheint vertraut aus ihren Filmen, die immer eine Präsenz der fixierten Zeit ist, pure Dauer der Gegenwart. Die dem Kino implizite Zeit-Reise in eine immerwährende Gegenwart, die sich als metonymischer Aspekt der technischen Reproduzierbarkeit beliebig wiederholen läßt, führt letztlich auch zu einem de-realisierten Bewußtsein für ÑAnwesenheitì. Als reale Figur erscheint der Filmstar als Doppelgänger und surreale Vergangenheit seiner selbst, da er, reine Konfiguration einer optischen Welt, seine Existenz nicht dem Sein verdankt, sondern allein dem Schein. In seiner Phantomhaftigkeit ist der Filmstar immer schon vollendet, ohne Zukunft jenseits der Leinwand. Als imaginär-reale Figur aus dem Reich der filmischen Vergangenheit enthüllt sich in ihm das Leben als Prädikation, als Außerhalb der Zeit, jenseits der Vergangenheit und Zukunft. Die Zeit steht still in dieser illusionären, dieser anderen Gegenwart, die weder hier ist noch jetzt. Der Schauspieler hingegen ist die Gegenwart der eigenen Figur in ihrer Vergangenheitsform, eine retardierende Verdoppelung, die uns zeigt, daß die Vergangenheit des Films auch unsere Vergangenheit einschließt, eine real gewordene Fiktion und tragische Phänomenologie des Scheins, in der die ewige Gegenwart eingeholt worden ist vom Futur des Realen: Zurück in die Zukunft.
 
1. Vgl. Arnold Hauser: Im Zeichen des Films. In: Karsten Witte (Hg.): Theorie des Films, Frankfurt/M. 1972, S. 131

2. Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1987, S. 25f

3.  Kay Kirchmann: Der tödliche Augen-Blick in den Filmen Stanley Kubricks. In: Vogelsang / Engell (Hg.): Der tödliche Augenblick. Wie Hören und Sehen vergeht, Köln 1989, S. 165

4. Vgl. Deleuze: Das Bewegungs-Bild,  S. 42

5. Vgl. Hermann Kappelhoff: Empfindungsbilder - Subjektivierte Zeit im melodramatischen Film. In: Theresa Birkenhauer (Hg.): Zeitlichkeiten, Berlin 1998, S. 102

6. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1997, S. 62f

7. Ebd., S. 37

8. Vgl. Kappelhoff: Empfindungsbilder, S. 101

9. Jan Mukarovsky: Die Zeit im Film. In: Wolfgang Beilenhoff (Hg.): Poetik des Films, München 1974, S. 136

10. André Bazin: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln 1975, S. 25

11. Stanley Cavell: Welt, durch die Kamera gesehen. In: Henrich / Iser (Hg.): Theorien der Kunst. Frankfurt/M. 1992. S. 450

12. Vgl. Ronald Balczuweit: Die Flucht der Erscheinungen. Zum photographischen und filmischen Bild. In: Zeitlichkeiten, S. 170

13. Vgl. Bernard Stiegler: Verkehrte Aufzeichnungen und photographische Wiedergabe. In: Michael Wetzel (Hg.): Ethik der Gabe. Denken nach Derrida. Berlin 1983. S. 197