Synchronität und Geschwindigkeit:
das Werk von On Kawara und Tatsuo Miyajim
Yuko Hasegawa

Wir erfahren das Vergehen der Zeit in Form von räumlicher Veränderung, Irreversibiltät, Kontinuität und Zielgerichtetheit. Die Zeit selbst läßt sich ver-einfacht als Übergang  begreifen, weshalb man sie auch als Übergangs-Geschwindigkeit wahrnehmen kann. Ein weiteres entscheidendes Element ist die  Synchronität. Durch die subjektive Erkenntnis der Synchronität im ge-genwärtigen Augenblick werden Vergangenheit und Zukunft dementspre-chend festgemacht. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat eine in diesem Zusammenhang interessante Beobachtung gemacht. Ein Kleinkind, das zusieht, wie zwei Aufzieh-Spielzeuge mit unterschiedlicher Geschwindig-keit zum selben Zeitpunkt  an unterschiedlichen Punkten anhalten, hat den Eindruck, daß jenes, welches sich weiter fortbewegt hat, später zum Stehen gekommen sei. Dies bedeutet, daß die Wahrnehmung von Synchronität eine verhältnismäßig hochentwickelte Fähigkeit ist, die später erlernt wird, als das Erfassen von Geschwindigkeit.

Mit dem Aspekt der Synchronität beschäftigt sich On Kawara in seinem Schaffen.

Sein Werk läßt zwei Interpretationsmöglichkeiten zu. Bei der charakteristi-schen Werkreihe der Date Paintings handelt sich um Tableaux zu den Ent-stehungsdaten des jeweiligen Bildes. Das Werk läßt sich als Akt wiederhol-ten Innehaltens verstehen mit dem Ziel, bestimmte festgelegte Punkte im linearen Strom der Zeit (Chronos) festzuschreiben. Die Werkreihe ist zwar auf einen bestimmten Zeitabschnitt in Kawaras Leben beschränkt, doch läßt sich die Methodik durchaus verallgemeinern. Bei diesem Vorgehen wird die eigene Zeit einer Betrachtung von außen unterzogen.

Darüber hinaus läßt sich das Werk unter einem eher existentiellen Aspekt interpretieren, als Ausdruck der alltäglichen Existenz des Künstlers, als Torso eines Tagebuches. Wie jedes andere Tagebuch verzeichnet auch dieses bestimmte Zeitangaben. Das Datum, das im Tagebuch in der Regel voran-gestellt wird, beschließt Kawaras Bilder. Auf jede weitergehende Darstellung wird bewußt verzichtet. Das Verlangen nach dem Nicht-Gesagten verstärkt die ausdruckslose Stille der Tableaux. In Jean Paul Sartres Werk Der Ekel äußert der Protagonist Roquentin über das Anti-Narrative des Alltagslebens: ÑDas heißt leben. Aber wenn man das Leben erzählt, verändert sich alles; bloß ist das eine Veränderung, die niemand bemerkt: Der Beweis ist, daß man von wahren Geschichten spricht. Als ob es wahre Geschichten geben könnte; die Ereignisse entwickeln sich in einer Richtung, und wir erzählen sie in umgekehrter Richtung.ì Jemand, der etwas erzählen will, fängt mit dem Ende an. Nur im Zeitrahmen einer Erzählung läßt sich die Vorstellung einzel-ner, privilegierter Momente verwirklichen. Dies trifft ebenso auf die selektiven Momente (Kairos) in der Malerei zu. Betrachtet man Kawaras Bilder als Er-zählungen, die mit dem Schluß beginnen, als Inschriften wahrer Geschich-ten, deren Erzählung unterbleibt, so gemahnen sie eindringlich an die Syn-chronität des Lebens. Sie arbeiten mit dem Bewußtsein der unterschiedlich-sten Eigenschaften von Synchronität - so wie sie der Betrachter alter Kalen-der erlebt.

Die Besonderheit des Werkes von Kawara besteht darin, daß es sich nicht im bloßen Mitgefühl auf einer rein existentiellen Ebene erschöpft. Der Verzicht auf dessen Darstellung hat nichts mit Nihilismus zu tun, sondern ist Teil einer positiven ÑHinnahme/Resignationì, die der Philosoph Shuzo Kuki als Aus-druck spezifisch japanischer Ästhetik bezeichnet. Wenn Kawara telegrafiert: ÑI am still aliveì, so ist das Bewußtsein des Todes die Prämisse für das ÑLe-bensì- Gefühl. In gewisser Weise fußt das Werk Kawaras im Buddhismus, der den Tod als einen normalen, natürlichen Zustand betrachtet. Kurze Statements wie ÑI got upì, ÑI wentì oder ÑI metì, lassen sich als Ausdruck ei-ner im buddhistischen Sinne erleuchteten Haltung der Hinnahme deuten. Folgende Äußerung stammt von einem Zen-Buddhisten:

Erst wenn ich mein Leben als Toter lebe,  kann ich mich der Kunst der Frei-heit erfreuen.
 

Indem er den Tod zur Prämisse macht, sprengt Kawara den Zeit-Rahmen seines eigenen Lebens und schafft die Voraussetzungen für seine Bücher
One Million Years.

Vor dem Hintergrund dieser buddhistischen Vorstellungswelt lassen sich die beiden Interpretationsmöglichkeiten vereinen. Durch die Hinnahme des To-des als Prämisse und normalem Seinszustand, das heißt mit anderen Wor-ten, als einem Zustand des ÑNichtsì, befindet sich der Mensch in weiter Ent-fernung und zugleich inmitten des Anderen. Das Nebeneinander der Be-trachtung bestimmter Zeit-Punkte (Chronos) mit einem existentiellen Zeitver-ständnis (Kairos) wird erst durch diesen außerordentlichen Seins-Zustand der ÑHinnahme/Resignationì möglich. Die ÑEntdeckung der Ewigkeit im Au-genblickì wird typisch für fernöstliches Zeitverständnis und findet Eingang in den zentralen Mittelpunkt der Werke Kawaras. Der darin angelegte Zeitbe-griff läßt den Betrachter die Synchronität zum dargestellten Zeitpunkt spüren und ermöglicht es ihm, jene Zeit Ñwiederzubelebenì.

On Kawaras Technik der Wiederholung ist nicht logisch begründet. Sie ist jedoch ein Akt von Disziplin, der seine eigene Logik entwickelt. Tatsuo Miya-jimas Werk hingegen ist in seinem Aufbau logisch bestimmt und wird von einer Maschine, einem sogenannten digitalen Zähler, ausgeführt.

Zeit als eine Spirale ohne Ende - diese fernöstliche Zeitvorstellung vermittelt Miyajima als räumlichen Eindruck mit Hilfe des Ñgadgetì (Apparat), beste-hend aus digitalen Zählern auf einer, von einem integrierten Schaltkreis kon-trollierten Leiterplatte. Diese Konstruktion erschafft willkürlich unendliche Kettenreaktionen. Blitze durchzucken die Finsternis. Die drei grundlegenden Begriffe in Miyajimas Werk - Ñkeep changingì, Ñcontact with everythingì und Ñcontinue foreverì realisieren die Komponenten Wandlung, Relativität und immerwährende Bewegung. Die Objekte dieser Realisation sind jeweils das Ñgadgetì oder die Anordnung einer Vielzahl von Apparaten,  welche die Zah-len von eins bis neun in unterschiedlicher Geschwindigkeit angeben - eine Darstellung der Erscheinungen biologischer Bewegung, bei der willkürlich interaktive Signale ausgesandt werden. Es gibt keinen endgültigen Tod, kein abschließendes Ende, sondern statt dessen unzählige Tode und unzählige Geburten in unendlicher Wiederholung. Miyajimas Werk bezieht sich nicht auf den Zeitrahmen eines Individuums oder auf jenes Gefühl für existentielle Synchronität, dem man im Werk Kawaras begegnet. Es gibt nur die ÑGegen-wartì. Das Ñgadgetì, ein namenloses Ego, vollzieht einen Akt des Zählens und beschwört unaufhörlich eine unwiderlegbare Realität und den gegenwär-tigen Lebens-Moment.

Leichter erschließt sich Miyajimas Werk unter dem Aspekt  der ÑGeschwin-digkeitì. Jeder Zähler zählt mit unterschiedlicher Geschwindigkeit  von niede-ren zu höheren Zahlen. Dazu gehören auch jene Anordnungen, in denen le-diglich bestimmte vorprogrammierte Zahlen erscheinen. Jedes Gerät besitzt seinen eigenen, einzigartigen Zeit-Rahmen. Deutlich zu erkennen ist die Nä-he der Arbeiten von Miyajima zu den Zeitmodellen physikalischer Theorien wie etwa zu Einsteins Relativitätstheorie oder Heisenbergs Prinzip der Un-schärferelation. In seinen Kunstwerken, in denen er Zähler aktiviert und zu willkürlichen Bewegungen auf dem Boden veranlaßt, verändern unterschied-liche Zeit-Programme willkürlich ihre räumlichen Positionen, was zu einer doppelten Unschärfe führt. Wie bereits erwähnt, ist das Empfinden für Ge-schwindigkeit eine intellektuell anspruchslosere Fähigkeit, die im Verlauf der menschlichen Entwicklung früher erlernt wird, als die Wahrnehmung von Synchronität. Zwei Komponenten in Miyajimas Werk, die Gegenwärtigkeit des Augenblicks und die Geschwindigkeit, können zu den unterschiedlich-sten, allzu oberflächlichen Interpretationen verführen - von der physiologi-schen Deutung reaktiven Herzrasens bis hin zu einer romantischen Empfin-dung vom Einklang des Ñgegenwärtigenì Ich mit dem Kosmos.

Der Grund dafür ist, daß es uns zur lieben Gewohnheit geworden ist, roman-tische Verbindungen zwischen Zeit und Erinnerung zu knüpfen, wodurch wir es versäumen, die ÑGegenwartì kritisch zu betrachten. Hilfreich bei der Klä-rung der Frage, in welchem Verhältnis das Werk Miyajimas zur Analyse der Gegenwart stehe, ist weniger die Physik, als vielmehr der Zeitbegriff, den die Erkenntnisse der Neurophysiologie vermitteln. Durch zwei unterschiedliche Formen der Übermittlung zwischen den Synapsen der Nervenzellen entsteht unser Bewußtsein: durch gelenktes und ungelenktes Lernen. Letzteres, auch Ñselbst-organisiertesì Lernen genannt, bezieht sich auf die Aneignung von Reflex-Mustern ohne äußere Anleitung. Auch zwischen den ÑGerätenì Miya-jimas bestehen selbst-organisierte Beziehungen, sobald der Künstler das Initialprogramm installiert hat. Bewußtsein ist eine zeitähnliche Erscheinung. Es ist grundsätzlich sowohl parallel als auch dispergierend angelegt, was zu Lückenbildung zwischen Zeit und Ordnung in der physischen Welt, sowie zwischen der subjektiven Zeitempfindung und der Wahrnehmung phänome-nologischer Ordnung durch das Subjekt führt. Die vom Gehirn wahrgenom-mene ÑGegenwartì ist nicht einheitlich, sondern hat eine Vielzahl von Be-deutungsebenen. Die Reihenfolge von Ereignissen, die dem Subjekt begeg-nen, lassen sich im Gedächtnis eines bewußten Zeit-Rahmens verändern und umkehren. Dabei handelt es sich um das Ergebnis einer ÑRestaurationì, die Teil  eines Prozesses ist, in welchem das Bewußtsein die Ordnung der Dinge innerhalb eines bestimmten Zeitraumes kohärenter und konsequenter rekonstruiert. Der Zeitraum der psychologischen ÑGegenwartì wird auf drei Sekunden  beziffert. Das ist die Zeiteinheit, innerhalb derer Informationen im Gehirn gespeichert werden.

Unser Gehirn besteht im wesentlichen aus digitalen und analogen Kompo-nenten. Die räumliche Verwendung digitaler Zähler mit organ-analoger, der Gehirnfunktion paralleler Bewegung, stimuliert verschiede Bereiche des Ge-hirns. Die parallel dazu verarbeitete Information erschafft spielend eine viel-schichtige ÑGegenwartì.

Kawara und Miyajima werden häufig in einem Atemzug erörtert, da beide Künstler mit Zahlen im Kontext von Zeit arbeiten. Die Gemeinsamkeit ihres Werkes besteht in ihrem Bezug zum Tode oder zum Nichts, in ihrer Befrei-ung vom menschlichen Ego, die sich in der Arbeit mit nonbiologischer Ma-schinerie offenbart. Kawara und Miyajima unterscheiden sich in ihrer, durch Synchronität einerseits, durch Geschwindigkeit andererseits, gekennzeich-neten Sehweise, doch verbindet sie die Vielschichtigkeit der Bedeutungen von ÑGegenwartì. Beide erschaffen eine komplexe, in der Unendlichkeit ver-ankerte ÑGegenwartì.  Ihr programmatischer Ansatz weist uns darauf hin, daß beide Künstler durch die Grundanschauungen der fernöstlichen Philoso-phie verbunden sind.