Du siehst, mein Freund, zum Raum wird hier die Zeit
Martin Glasen und René Block
Zur Auswahl von Künstlern und Werken für die Ausstellung Chronos & Kairos. Die Zeit in der zeitgenössischen Kunst unterhielten sich auf der dänischen Insel Møn Martin Glaser und René Block.

Martin Glaser: Ein Jahr, ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert und ein Jahrtausend nähern sich ihrem Ende, ein idealer Zeitpunkt, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachzudenken und Zeit zu thematisieren.

René Block: Als unabhängiger Ausstellungskurator trägt man viele Ideen zu Projekten mit sich herum und muß auf den Moment warten, da man sie realisieren kann. Das war so beim Thema ÑMusik und bildende Kunstì, das sich durch glückliche Fügung 1980 mit den Berliner Festspielen und der Abteilung Musik der Akademie der Künste umfassend ausführen ließ. Für Augen und Ohren hieß damals die Ausstellung. Fast ebenso lange beschäftigen mich aber auch die Themen ÑZeitì und ÑSpracheì. Die Beziehung zwischen Sprache und Bild, Wort und Form in der zeitgenössischen Kunst soll im nächsten Jahr in der Ausstellung Am Anfang war das Wort (1.10. - 3.12.2000 im Museum Fridericianum Kassel) behandelt werden. Die ÑZeitì bildet auch zeitlich den mittleren Akt dieser Ausstellungstetralogie. Es hat also beinahe 20 Jahre gedauert bis sich durch meine Berufung ans Fridericianum die Gelegenheit bietet, diese Pläne zu verwirklichen. Auch hier spielt Zeit, Geduld, eine große Rolle. Auch Ideen müssen reifen.

MG: Eine Ausstellungstetralogie nennen Sie die drei Projekte, gibt es Berührungspunkte, Leitmotive?

RB: Es gibt Künstler, die zentrale Rollen spielen, wie Duchamp, Cage und Beuys, die in allen drei Ausstellungen auftreten. Aber auch Hanne Darboven ist hier zu nennen. Gerade Hanne Darboven beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen ÑZeitì sowohl auf einer verbalen als auch musikalischen Ebene. Schreibzeit, die sie in der ihr eigenen Systematik in Musik umsetzt.

MG: Musik ist demnach ein Leitmotiv in Chronos & Kairos?

RB: Nicht von ungefähr wird dem Katalog zur Ausstellung als Vorspiel eine kleine Oper von George Brecht vorangestellt. Sie besteht aus einer einfachen Handlungsanweisung für ihre drei Akte. Die Ausstellung selbst beginnt mit einer kleinen Hommage an Erik Satie. Wir werden seine VEXATIONS und die Musique díAmeublement aufführen. Bei Satie beginnt etwas, das wir als Ñkonzeptuelle Musikì bezeichnen können und auch die Anfänge der Ñvisuellen Musikì liegen hier, wie seine berühmte Komposition Form einer Birne oder die Notenschrift in Form von Wellen in der Komposition Bain de Mer von 1914 zeigen. 1921 konzipierte Satie die wahrscheinlich längste Komposition der Klavierliteratur Vexations, die bei mittlerem Tempo der Vortragsweise eine Länge von 18 bis 19 Stunden ergibt. Vorgetragen wird in der Regel von mehreren Pianisten, die sich, wie beim Staffellauf, am Klavier abwechseln, sozusagen den Ton übergeben. Dabei ist es ein relativ kurzes Stückchen Klaviermusik, das Satie notierte. Nur versah er es mit der Anweisung, es 840 mal zu wiederholen. Wie bei Vexations so wird auch bei der 1917 konzipierten und 1920 realisierten Komposition Musique díAmeublement die zeitliche Länge der Musik ein entscheidender Faktor, die Musik soll wie Möbel im Raum vorhanden sein, permanent und selbstverständlich. Aber auch der Raum selbst wird in dieser Komposition einbezogen. Raum und Zeit, Klang und Umgebung werden als zentrale Problemstellungen für die weitere Musikpraxis entdeckt und gerade von John Cage weiterentwickelt. Es war auch Cage, der 1979 die erste Realisierung der Möbelmusik als akustische Installation vorschlug. Mußte zu Saties Lebzeiten das Stück durch drei kleine Musikgruppen live für ein bestimmtes Ereignis aufgeführt werden, so kann die Musik heute dank moderner Technik mit Endloskassetten permanent während einer mehrwöchigen Ausstellungszeit aufgeführt werden. So wie Musik in Supermärkten oder in Flughäfen. 1920 bei der Erstaufführung durch drei Musikgruppen soll Satie, da sich die Zuhörer still verhielten, zornig ausgerufen haben: ÑHört nicht zu! Geht herum! Unterhaltet Euch!ì Wir haben für diese Ausstellung den Raum aus der Augen und Ohren-Ausstellung rekonstruiert. Übrigens wird dieser Raum die Ñhistorischeì Zelle der Ausstellung, weil in ihm auch das Indestructible Object von Man Ray und ein Rotorelief von Marcel Duchamp gezeigt werden. Zwei frühe kinetische Objekte, in denen bildende Künstler das unaufhaltsame Fortschreiten der Zeit thematisieren.

MG: Cage hat durch die Beschäftigung mit Satie den Musikbegriff neu definiert.

RB: Cage äußerte einmal, daß bei Beethoven die Teile einer Komposition durch die Harmonik bestimmt würden, bei Webern und Satie hingegen durch die Zeitlängen. Bei Beethoven ist Dauer, Tonhöhe, Lautstärke und Farbe von gleicher Bedeutung. Gegenpart des Tons und von gleicher Bedeutung aber ist Stille. Stille wird ausschließlich durch Zeit wahrgenommen. Ich habe das jetzt vereinfacht, der genaue Text wird im Ausstellungskatalog abgedruckt.
Aber diese Entdeckung hat schließlich zu einer der Schlüsselkompositionen des 20. Jahrhunderts geführt, zu 4í33íí. In dieser Komposition wird eine bestimmte Zeit zu Musik erklärt. Alles, was in dieser Zeit an Geräuschen oder Gesprochenem gehört wird, wird Musik. Am Klavier werden keine Klänge produziert. Es gibt eine Sequenz in dem Paik Video A Tribute to John Cage, in der Cage selbst dieses Stück aus dem Jahre 1952 aufführt. Das werden wir in der Ausstellung zeigen. Bei dem Stichwort ÑStilleì denke ich gleich auch an das Objekt Das Schweigen von Joseph Beuys. Nach Cage ist es eine Klangskulptur, wenn auch eine stumme, also ein Werk, das mit Zeit zu tun hat.
Die Idee der Musique díAmeublement griff Cage selbst noch einmal 1991 in einer Hommage an Mozart auf. Den Titel seines Rozartmix ironisierend nannte er das Werk Mozart Mix. Es dürfte sich hierbei um das erste multiplizierte Klangenvironment handeln, und es wurde hergestellt in einer Auflage von 35 Exemplaren, Mozarts Lebensjahren entsprechend. 25 Endloskassetten unterschiedlicher Länge enthalten verschiedene Mozartmusiken, jeweils 5 werden gleichzeitig abgespielt, so daß ein neuer Soundmix entsteht - eben Cage.
Öffentlich in einem Konzertsaal aufgeführt wurde Mozart Mix zum ersten Mal ein Jahr nach dem Tod von Cage im Opernhaus von Seoul bei einem Fluxusfestival. Den umgekehrten Weg ging Cage übrigens bei 33 1/3. Hier wurde aus einem Konzertstück eine Installation, in der das Publikum aus 100 Schallplatten an 12 Plattenspielern eine Klangmixtur herstellen kann. In beiden Arbeiten betont Cage den Raum- und Objektcharakter seiner Musikkonzeption und überläßt es gleichzeitig den Rezipienten, Art und Weise der Realisierung und Aufführungsdauer zu bestimmen.

MG: Das Konzept, sich auf Lebensjahre zu beziehen, wie dies Cage bei Mozart Mix praktizierte, verfolgten einige Jahre zuvor schon Beuys und Paik bei ihrem Gedenkkonzert für George Maciunas in der Düsseldorfer Akademie. Hier bestimmte die Umkehrung der Ziffern von 47 Lebensjahren die Länge der Aufführung auf 74 Minuten. Ein Wecker wurde auf diese Zeit eingestellt. Sein Klingeln beendete das Konzert. Welche Bedeutung hat reale Zeit für bildende Künstler?

RB: Wir betreten jetzt ein heikles Feld, weil wir viele ganz unterschiedliche Ansätze und Absichten nicht vermischen dürfen. Da ist einmal das Prozeßhafte, wobei wir aber auch gleich wieder viele Formen von Prozessen haben, auf die wir sicher noch eingehen. Ich möchte jetzt aber erst einmal den Prozeß des Entstehens eines Werkes herausgreifen, wie er beim Actionpainting in den 50er Jahren große Bedeutung hatte. Nun kann man ja sagen, daß jede Bildproduktion ihre Zeit benötigt, aber dies geschieht in der Regel in aller Ruhe an einer Atelierwand, und irgendwann ist das Bild fertig. Beim Actionpainting aber war der Malakt selbst das Ereignis. Das Ergebnis war durchaus zufällig, vorher nicht bestimmt. Pollock beispielsweise legte seine Leinwände auf dem Boden aus und schritt in sie hinein wie in einen Raum. Bild-Raum und Mal-Zeit waren bestimmende Faktoren für das Ergebnis. In Europa trat der französische Maler Mathieu öffentlich malend auf und Yves Klein produzierte Bilder durch Körperabdrücke vor Publikum. Bildende Künstler, die bisher in drei Dimensionen arbeiten mußten, entdeckten Zeit als vierte Dimension. Für Beuys beispielsweise war Zeit eine plastische, räumliche Dimension. In seinem 8-stündigen Fluxusgesang Der Chef, den er 1964 in Berlin aufführte, hatte die Zeitfestlegung eine plastische Funktion: Raum, Zeit, Klang. Das Erleben von Zeit, als Aufführender oder als Publikum wird ein zentrales Thema der Aktionskunst und des Happenings und wie bei der Musik so auch in Künstlerfilmen oder später in Videoarbeiten.

MG: Wie wird dies in der Ausstellung vermittelt?

RB: Dies kann nur anhand weniger ausgewählter Beispiele geschehen. Aber einer der zentralen Räume der Ausstellung wird aus gleichzeitigen Projektionen von Warhol, Paik, James Riddle und Beuys bestehen. Von Andy Warhol zeigen wir Empire, diesen 8 Stunden und 5 Minuten langen Film aus dem Jahre 1964, in dem der Künstler das Empire State Building mit feststehender Kamera abfilmte. Veränderungen finden nur am Himmel oder durch veränderten Lichteinfall auf das Gebäude statt. Auf der gegenüberliegenden Wand wird Nam June Paiks Zen for Film ablaufen. In einer Endlosschleife läuft ein unbelichteter Filmstreifen durch den Projektor, wird im Laufe der Zeit Staubpartikel anziehen, Kratzer abbekommen, wird sich als Filmmaterial und als Projektion im Laufe der Zeit konkret verändern.
Von James Riddle wird der Fluxusfilm Nr. 6 mit dem Titel 9 Minuten aus dem Jahre 1966 wiederentdeckt werden können. Hier ist die Länge des Filmes mit der Zeitangabe im Titel identisch. Also wieder ein konkreter Film. 9 mal blitzen die Zahlen 1 bis 60 auf. Dann sind 9 Minuten vorbei.
Der Film von Joseph Beuys nimmt eine Gegenposition zu diesen drei Filmen ein. I like America and America likes me ist die Dokumentation seiner berühmten einwöchigen Aktion mit einem Kojoten in einem New Yorker Galerieraum. Diese ereignete sich 1974, also vor einem Vierteljahrhundert. Bei dieser Aktion war die Zeit wieder präzise festgelegt und durch Ankunft und Abflug bestimmt. Auch die Begegnung mit dem Kojoten war streng zyklisch angelegt, man könnte sagen in vier Sätzen, die sich stündlich wiederholten. Einer stehenden, in Filz eingehüllten Figur folgte eine hockende, dann eine liegende. Schließlich die Befreiung von der Filzumhüllung, das Anschlagen einer Triangel, Korrektur der Utensilien im Käfig. Dann begann der Zyklus erneut, täglich durchgehend von 10.00 bis 18.00 Uhr.

MG: Mit Riddle, Beuys und Paik halten wir uns historisch im Fluxusumfeld auf, in dem viele Künstler eher spielerisch mit Zeit umgegangen sind.

RB: Und auch streng konzeptionell. Dieser Aspekt wird bei Fluxus immer noch übersehen, weil später ja die Concept Art dieses Terrain exklusiv besetzt hat. Aber nehmen Sie nur die Stücke von La Monte Young von 1962 wie Draw a straight line and follow it oder die Drip music von George Brecht, in der Wassertropfen in bestimmten regelmäßigen Abständen fallen. Ich könnte jetzt unzählige Stücke dieser Art anführen, müßte dazu allerdings ein paar Schachteln öffnen, in denen diese Konzepte publiziert und wieder vergessen wurden. Aber Fluxus hat nie eine Ideologie aus seinen Ideen gemacht und ist nicht verbissen an die Durchsetzung herangegangen, sondern, wie Sie sagen, eher spielerisch und zwischen zwei Gläsern Bier. Wenn ich etwas von Broodthaers oder Beuys oder Paik und vielen Fluxuskünstlern gelernt habe, dann dieses, daß man über Kunst auch lachen können muß. Wenn mir ein Künstler lange seine Arbeit erklärt, man sich dann für einen Moment zurücklehnt, ich ihm in die Augen sehe, und er zu lachen beginnt, dann weiß ich, daß es lohnt, weiter mit ihm zu reden. Nehmen Sie doch die ÑJoccondaì von Filliou mit dem deutschen Titel Bin in 10 Minuten zurück, Mona Lisa. Dazu ein Putzeimer mit Schrubber. Wieviel Philosophie steckt in einem solchen Werk, wieviel mehr als zum Beispiel in Eisenmans Holocaust Mahnmal. Ich meine, wieviel Menschlichkeit ist in einer solchen Arbeit und wie wenig ist in den Steinblöcken. Oder sehen wir uns One Year von Maciunas an. Da ist streng festgehalten und in eine plastische Form gebracht, was alles er in einem Jahr verzehrt hat. Ein wirklich strenges Stück Konzeptkunst, das ein Jahr dokumentiert. Aber, wenn man bedenkt, wie oft der Mann deshalb in Supermärkte gerannt ist und nach Sonderangeboten Ausschau gehalten hat, und wie einseitig er sich aufgrund der Sonderangebote ernährt haben muß, dann ist so ein Stück doch auch Teil eines Lebens und Überlebens, also wirklich Zeit.
Und ähnliches könnte ich auch über Køpcke, Williams oder Vautier berichten. Und natürlich über Nam June Paik, der eine der zentralen Positionen in dieser Ausstellung einnimmt, was Anzahl und Gewichtung der Werke betrifft.

MG: Für Paik, der Koreaner ist, hat Zeit einen ganz anderen kulturellen Hintergrund, eine andere philosophische Bedeutung.

RB: Da ist einmal der andere kulturelle Hintergrund von Bedeutung, aber auch der Umstand, daß Paik ja ursprünglich Komponist ist und von daher immer in zeitlichen Dimensionen denkt. Die räumliche kam später hinzu, ein umgekehrter Weg als bei Beuys zum Beispiel. Ich erinnere mich noch an seine Vor-Videozeit, als er mit Charlotte Moormann durch die Lande zog und Konzerte gab. Wir hatten 1965 einen solchen 3-tägigen Konzertauftritt in Berlin unter dem Obertitel So langweilig wie möglich. Daran werde ich beispielsweise bei der Videoinstallation Killing Time von Sam Taylor-Wood, die wir ja auch zeigen, sofort erinnert.

MG: Damit sind wir beim Thema ÑVideoì.

RB: Wir präsentieren drei Videoklassiker von Paik. Einen Buddha, der eine irgendwo im Raum brennende Kerze auf dem Monitor betrachtet, dazu das erste Video-Multiple überhaupt, Der Denker, der ja in der Konzeption nahe an die erste Buddha-Installation anknüpft, die sich heute in der Sammlung des Stedelijk Museum Amsterdam befindet, und in der eine Buddhafigur sich selbst auf dem Monitor wiedersieht, betrachtet und meditiert. In der multiplizierten Version tut das der Denker.
Dann hat Paik eine neue Version der TV-Clock vorgeschlagen. Diesmal werden 12 Fernsehgeräte, deren Bildzeilen zu einer Linie verdichtet sind, kreisförmig an der Wand angebracht.
Eine andere, neue Videoarbeit zeigt gleichzeitig drei zeitlich auseinander liegende Auftritte von Charlotte Moorman.
Aber es kommt auch noch einmal der andere Paik zu Wort, der ÑFluxus-Paikì mit seiner Arbeit LIFE. Dazu hat er über Jahre in Trödelläden alte LIFE-Magazine gekauft und die Titelseiten mit Kommentaren zu Ereignissen aus seinem Leben versehen, die Kindheit in den 30er Jahren, die Pubertät in den 40ern, die Reife zum Mann und Künstler in den 50ern, die Fluxuszeit in den 60ern usw. Die Arbeit endet 1972 mit seinem 40. Geburtstag. Er hat 1982 zu seinem 50. Geburtstag noch eine letzte LIFE-Meldung hinzugefügt. Es ist eine Arbeit, die zwei Geschichten erzählt: die sehr persönliche eines einzelnen Menschen und gleichzeitig anhand der Titelbilder die der Weltgeschichte.

MG: Ihre Beschreibung dieser Arbeit erlaubt mir den Brückenschlag zu zwei anderen bedeutenden Positionen in Ihrer Ausstellung, zu Hanne Darboven und On Kawara. Beide verbinden in ihrem Werk subjektive Informationen mit dem Geschehen der Weltgeschichte.

RB: Auf wiederum sehr unterschiedliche Weise. Hanne Darboven erschreibt sich geradezu die Zeit. Tage, Monate, Jahre bilden den Ausgangspunkt einer systematischen Auflösung und Verdichtung. Eine Analyse des Begriffs des Zeitablaufs ist in allen ihren Arbeiten enthalten.  Mit Urzeit/Uhrzeit holen wir eine raumfüllende Arbeit aus dem Jahre 1987 aus New York zurück, die meines Wissens in Deutschland noch nicht gezeigt worden ist. Darboven ist in Urzeit/Uhrzeit sowohl Chronistin wie auch Schreiberin der Uhr- und der Urzeit. Sie verbindet unsere Zeiteinteilung nach der Uhr in einem Zahlensystem mit den riesigen Zeiträumen der Vorgeschichte. Die Arbeit erlaubt dem Betrachter einen unmittelbar zu empfindenden Eindruck von Zeit.
Thematisiert Hanne Darboven ganz bestimmte Zeitabschnitte, so ist Zeit bei On Kawara, wie das Leben, ein ÑOn-going Pieceì. Er dokumentiert in seinen date paintings bestimmte Tage, aber auch die Orte, an denen er sie gemalt hat. Auf dem Bild selbst wird dies durch die Sprache in der das Datum erscheint manifestiert, in dem das Bild begleitenden Karton zusätzlich durch eine Zeitung des betreffenden Tages vom Ort des Entstehens. In anderen Serien verkündete er seine Existenz durch das Versenden von Telegrammen I AM STILL ALIVE oder die Postkarte I got up at ... .
Und dann sind da noch die privaten, in Ordnern festgehaltenen Aufzeichnungen jeden Tages:  I met ..., I went ... und I read....
Allen diesen Werkgruppen wollte die Ausstellung breiten Raum geben und viele Verträge mit Leihgebern waren bereits abgeschlossen, als On Kawara den Wunsch äußerte, ausschließlich seine Arbeiten One Million Years - Past und One Million Years - Future zu zeigen, begleitet von einer CD, auf der die ersten 60 Minuten der One Million Years - Past gesprochen werden.

MG: Die Visionen von Kuratoren, wie eine Ausstellung aussehen sollte, entsprechen nicht immer den Wünschen der Künstler.

RB: Die Erfahrung lehrt aber auch, daß umgekehrt die Wünsche einiger Künstler kaum zu erfüllen sind. Gerade an das Fridericianum werden oft zu große Erwartungen geknüpft. Aber das ist eine andere Geschichte.

MG: Wir hatten vorhin das ÑProzeßhafteì angesprochen und hatten eine Entwicklung von Actionpainting, Happening und Performance zum Künstlerfilm angezeigt, es gäbe hier aber auch andere Linien zu verfolgen, wie etwa Abläufe in realer Zeit, biologische oder physikalische Prozesse.

RB: Künstler der Land Art Bewegung haben sich natürlich immer mit Zeit auseinanderzusetzen, Tageszeiten, Nachtzeiten und auch Jahreszeiten. Ich glaube, Walter de Maria hat einmal gesagt, daß der Künstler, der mit Erde arbeitet, auch mit Zeit arbeitet. Wir haben weitgehend auf eine Dokumentation der Land Art verzichtet, aber für die Ausstellung ein authentisches Beispiel herausgegriffen. Die Fotoarbeit The shortest day at the van Abbemuseum von 1970. Hier hat Jan Dibbets am kürzesten Tag des Jahres, also an einem Dezembertag, seinen Fotoapparat vor einem Fenster in einem Raum des Museums fest installiert und alle 6 Minuten von Innen nach Draußen fotografiert. Im Ergebnis erscheinen die sich ändernden Einfallswinkel der Sonnenstrahlen und hierdurch bedingten, sich verändernden Lichtverhältnissen auf den Fotos. Ein mit einfachen Mitteln gefertigter Beweis für die Rotation der Erde.
Biologische Zeitprozesse werden in den Arbeiten von Diter Rot deutlich, den in seinen Schimmelbildern und Schokoladenobjekten die prozeßhafte Veränderung von allem Organischen im Lauf der Zeit beschäftigt.
Organische Materialien benutzt auch Janine Antoni, wenn sie plastische Selbstportraits aus Schokolade und Seife herstellt, die sie aber umgehend durch Verbrauch wieder abnutzt, verändert. So wird die Schokoladenbüste durch den lange dauernden Prozeß des Ableckens depersonalisiert. Entsprechendes geschieht der Büste aus Seife durch Abnutzung bei Waschvorgängen.
Und dann dürfen wir, wenn wir in Kassel über biologische Zeit sprechen, die größte Außenskulptur überhaupt, die 7000 Eichen von Beuys nicht vergessen. Die erste, 1982 noch von Beuys selbst gepflanzte, und die letzte, 1992 gepflanzte Eiche stehen gleich vor dem Museum. Hier ist nicht nur der biologische Prozeß des Wachsens der Bäume interessant, sondern auch der soziale und politische. Wie geht die Bevölkerung einer Stadt mit einem solchen Werk im Laufe der Zeit um?
Und schließlich ist da noch die Arbeit Kalter Fluß aus den frühen siebziger Jahren von Karl Horst Hödicke zu nennen. Hier arbeitet der Künstler mit Bitumen, einem Material, das sein Verhalten nach der Temperatur ausrichtet, hart oder weich wird. An 14 aufeinanderfolgenden Tagen wird je ein Eimer mit Bitumen aufgehängt. Im Laufe der Zeit läuft das Bitumen aus, in unterschiedlicher Schnelligkeit und Stärke, etwa mit Sirup oder Honig vergleichbar. Es wird am Boden permanent neue Formen bilden. In dieser Arbeit wird die prozeßhafte Veränderung eines bestimmten Stoffes verdeutlicht aber, anders als bei Diter Rot, nicht als Verwesungsvorgang, sonder als skulpturaler Prozeß.
Bewegung als Synonym für die Zeit hat seit Anfang des Jahrhunderts eine immer bedeutsamere Rolle gespielt. Ich erwähnte schon die Rotoreliefs von Marcel Duchamp, an die sich eine schier unübersehbare Menge von kinetischer Kunst anschließt. Das Metronom, in einem anderen frühen Beispiel von Man Ray benutzt, wird in einer Installation von Jaroslaw Kozlowski wieder eingesetzt, in Verbindung mit Uhren und geometrischen Wandzeichnungen. Die Türkin Ayse Erkmen aber wird gleich eine ganze Museumswand für uns bewegen. Die Rückwand eines schmalen, vorne offenen Raums wird sich nach vorne bewegen, bis dieser Raum geschlossen sein wird, nicht mehr da ist. Beim Zurückbewegen wird dieser Raum wieder entstehen und betretbar sein. Wie ein organischer Vorgang, das Atmen etwa, soll dieser Vorgang gleichmäßig ablaufen.

MG: ÑZum Raum wird hier die Zeitî, könnte man bei dieser Arbeit Richard Wagner zitieren, ein konkreter Umgang mit Raum und Zeit. Auf andere Weise konkret mit realer Zeit, mit einer präzisen Zeitvorgabe zu arbeiten, damit haben sich ebenfalls Künstler beschäftigt, wie der Neuseeländer Billy Apple zum Beispiel.

RB: 2í33íí ist  eine Anspielung auf 4ë33î von Cage und seinen eigenen Namen. Anstelle der drei musikalischen Sätze hat sich Billy Apple drei Äpfel genommen und in der vorgegebenen Zeit von 2ë33î angebissen. Dann hat er diese drei Apfelreste in Bronze gegossen und angemalt.
Die Zeit vorgegeben hat auch Gerhard Rühm in einigen seiner automatischen oder blinden Zeichnungen, wenn er zum Beispiel eine Minute lang das Wort Ñichî mit geschlossenen Augen auf die gleiche Stelle eines glatten Papiers zu schreiben versuchte.
In diesen Zusammenhang gehören auch die Zeit-Zeichnungen, mit denen sich Jaroslaw Kozlowski in den späten 70er Jahren beschäftigte. Er gab sich Zeiten vor von einer Sekunde, zehn Sekunden, einer Minute und so weiter bis zu etwa 2 Stunden und zeichnete von der raschen Linie bis zum mehrfach zugezeichneten Blatt Papier entsprechend der zur Verfügung stehenden Zeit.

MG: Diese Arbeiten Kozlowskis könnten als Action-drawings bezeichnet werden, weil der physische Akt der Ausführung von großer Bedeutung ist, sie könnten in unserem Gespräch aber auch eine Brücke zur Concept Art bauen.

RB: Die durch Künstler wie Stanley Brouwn, Lawrence Weiner und Joseph Kosuth repräsentativ vertreten ist. Art as idea as idea von 1967 mit der lexikalischen Definition des Wortes ÑTIMEì ist eine klassische Konzept-Arbeit von Joseph Kosuth. Der Begriff der Zeit wird rein gedanklich abgehandelt, wie auch bei dem Beitrag von Lawrence Weiner. Vor und nach einem Loch in der Zeit wird in der für Weiner charakteristischen Typographie in englischer und deutscher  Sprache auf zwei gegenüberliegenden Wänden stehen. Die Vorstellungskraft des Betrachters wird hier angesprochen. Der Künstler entzieht sich jeglicher visuellen Bevormundung in Bezug auf den Inhalt seiner Aussage.

Obwohl ihre Kunst nicht zur klassischen Concept-Art zählt, möchte ich gerne an dieser Stelle auf den Beitrag von Maria Eichhorn zu sprechen kommen, die mit realer Zeit operiert, wenn sie die Öffnungszeiten des Museums für die Ausstellungsdauer von Chronos & Kairos durcheinanderbringt. Museen in Deutschland öffnen und schließen sehr präzise, man könnte seine Uhr danach stellen. Hier greift Maria Eichhorn ein, indem sie diese Disziplin stört und die Öffnungszeiten verlängert, abhängig von den Besuchern des Museums. Sind um 18 Uhr keine Besucher mehr im Haus, schließt das Museum pünktlich, befinden sich noch Besucher in den Ausstellungsräumen, beeinflussen sie innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens die Schließzeiten. Auch für das Aufsichtspersonal wird die täglich wechselnde Schließzeit eine Zeiterfahrung werden.

MG: Ich habe einmal nachgezählt: 66 Künstler sind in der Ausstellung mit großen und kleinen Beiträgen versammelt, wir können nicht auf alle einzeln eingehen. Vielleicht aber noch einige Worte zur jüngsten Generation. Unterscheidet sich deren  Zeitauffassung von der der älteren?

RB: Die junge Generation beschäftigt sich vielleicht etwas spontaner, freier, dafür weniger philosophisch mit dem Thema. Andererseits stellt sie zum Teil größere Ansprüche an die Umsetzung der Beiträge, an deren Präsentation. Aber dies ist ein generelles Phänomen, das mit der Kommerzialisierung der Kunstwelt einhergeht. Der Zeitgeist geht nicht spurlos an den Künstlern vorüber. Time is money. Money bedeutet Erfolg.

MG: Abschließend habe ich doch noch eine Frage zum Titel. Chronos und Kairos stehen ja für zwei unterschiedliche Zeitauffassungen, die fortlaufende Zeit und der richtige Augenblick. Lassen sich diese beiden Charaktere bei den Kunstwerken erkennen, folgt die Auswahl der Arbeiten diesen Aspekten? Mit anderen Worten: gibt es eine Abteilung Chronos und eine Abteilung Kairos?

RB: ... die dann aufeinander zumarschieren? Nein, natürlich nicht. Dennoch bereitet es Vergnügen, und die Besucher sind herzlich eingeladen, sich diesem Vergnügen zu unterziehen, Zuordnungen zu treffen. Drei Beispiele möchte ich zur Anregung nennen. Zunächst einmal eines die Auswahl von Künstlern betreffend, das ich exemplarisch an den drei japanischen Künstlern On Kawara, Miyajima und Mariko Mori darlegen kann. Während Miyajima und Kawara eindeutig für den ÑChronos-Aspektì zu nennen sind, verkörpert Mori den Kairos, den Zeitgeist, den richtigen Moment, die Schönheit des Augenblicks, der ja manchmal auch schwer zu ertragen ist.
Beispiele für die Gleichzeitigkeit von Chronos und Kairos in Werken eines Künstlers finden wir in der Auswahl der Arbeiten von Endre Tót. Seine Bilder zeigen zwar einzelne Momente der Zeit und Kulturgeschichte, als Serie aber deren Verlauf, wären also eher dem Chronos als dem Kairos zuzuordnen, wohingegen die bearbeiteten Buchseiten des Kamasutra, die kleinen Montagen erotischen Inhalts, eindeutig einen gewissen richtigen Moment darstellen, unter dem Schutz des Kairos stehen. Und dann gibt es noch Eastern-Daylight-Fluxtime, ein kleines Objekt von gleich zwei Autoren, George Brecht und Robert Filliou. In diesem Objekt symbolisiert das metallene Gehäuse der Taschenuhr, dieses Minichronometers, den Chronos. Der bunte Inhalt an Perlen und anderen Kleinigkeiten hingegen deutet auf Kairos hin.

MG: Und Ihr persönliches Verhältnis zu Chronos und Kairos?

RB: Um mit Karl Valentin zu sprechen: ÑDie Zukunft war früher auch besser.ì