Die wahren Geschichten der Sophie Calle
Barbara Heinrich, 2000

Rituale

Sophie Calle verläßt nach ihrem Schulabschluß Paris und begibt sich auf eine Reise um die Welt. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich unterwegs durch Gelegenheitsjobs als Barfrau, Tänzerin und Hundedompteurin im Zirkus. Die Auseinandersetzung mit unbekannten und unvorhersehbaren Situationen wird zu einem wichtigen Bestandteil ihres Lebens. Nach siebenjähriger Abwesenheit kehrt sie 1979 in ihre Heimatstadt zurück und muß feststellen, daß ihr diese fremd geworden ist. Um sich wieder mit Paris vertraut zu machen und ihrem täglichen Leben einen Sinn zu geben, beginnt sie, mit Kamera und Notizblock ausgestattet, zufällig ausgewählten Passanten ohne deren Wissen zu folgen. Als ich zurückkam, fühlte ich mich in meiner eigenen Stadt verloren. Ich hatte alles über Paris vergessen. Ich hatte keine Gewohnheiten, ich kannte niemanden. Ich konnte nirgends hingehen, also beschloß ich Menschen zu folgen - irgendeinemã, beschreibt sie selbst ihre damalige Situation.
Dieses eher wahllose Vorgehen weicht bald sorgfältig durchdachten Inszenierungen, die die Künstlerin selbst als Rituale bezeichnet und deren Inszenierung zur Voraussetzung ihrer Werke wird. Die Psychologie zwischenmenschlicher Beziehungen ist der Inhalt aller meiner Arbeitenã, sagt Sophie Calle und zeigt sich stark von dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan beeinflußt, der in den sechziger und siebziger Jahren eine Theorie des Unbewußten in der Alltagssymbolik entwickelte.
Die Künstlerin kombiniert detektivische Verfolgung mit einer Art Verhaltensforschung und journalistischer Recherche. Sie beobachtet, sammelt Daten, Hinweise, Spuren und Erinnerungen und gibt die Ergebnisse ihrer Untersuchungen in Form tagebuchartiger Texte wieder, die von fotografischen Beweisen unterstützt werden. Ihre Arbeiten erzählen Geschichten und dokumentieren die verschiedenen Ebenen, die uns zu einer bestimmten Wahrnehmung führen, wobei die eingestreuten Fiktionen der Phantasie des Betrachters erheblichen Spielraum geben.

1979 entsteht die Arbeit Die Schläfer, die nicht als Kunstwerk geplant, sondern zum "eigenen Vergnügen" in Szene gesetzt wird. Sophie Calle bittet 45 Personen - Freunde, Nachbarn und Unbekannte, die sie telefonisch kontaktiert hat - jeweils acht Stunden in ihrem Bett zu schlafen, Fragen zu beantworten und sich fotografieren zu lassen. 28 Befragte sagen zu, und das Bett der Künstlerin ist vom 1. bis zum 9. April permanent besetzt. Es entstehen 176 schwarz-weiß Fotografien und begleitende Texte, die über Einstellungen und Verhaltensweisen der Schläfer Auskunft geben. Die Inszenierung erinnert an Laborexperimente oder soziologische Versuchsanordnungen, die von der Künstlerin kontrolliert und distanziert beobachtet werden. Sie interessiert sich für (...) jene scheinbar unbedeutenden Informationen über die nur ihre Partner verfügen, also ob sie etwa beim Schlafen schnarchen oder ob sie ohne Kopfkissen schlafen.ã Die zu Protokoll gegebenen alltäglichen Einzelheiten verlieren allerdings ihre scheinbare Banalität und werden immens wichtig, wenn es darum geht, sich ein Bild von einem Menschen zu machen. Neugier, voyeuristisches Vergnügen, sowohl der Künstlerin, als auch des Betrachters, und die Idee der Überwachung werden in dieser Arbeit gleichermaßen dokumentiert. Die Beobachteten sind Komplizen; es entsteht eine Beziehung, die sowohl Risiko als auch Vertrauen beinhaltet.

Die Komplizenschaft mit den Opfern wird in Suite Vénitienne (1980) wieder aufgegeben. Diese Arbeit ist ihr wohl bekanntester Versuch, heimlich in das Leben eines Fremden einzudringen und es auszuspionieren. Sophie Calle folgt einem Mann, der ihr in Paris flüchtig vorgestellt wurde, nach Venedig. Wie ein Detektiv aus einem Film der 50er Jahre, verkleidet mit Regenmantel, blonder Perücke und Sonnenbrille, macht sie das Hotel von Henri B. ausfindig, lauert ihm auf, verfolgt ihn durch die Stadt, besucht und befragt Personen, mit denen er Kontakt hatte. Sie fotografiert ihn immer wieder hinter seinem Rücken, macht auch Aufnahmen von Straßen und Plätzen, die er durchquerte und notiert die täglichen Ereignisse. Bei ihren Annäherungsversuchen wird sie immer sorgloser, und eines Tages erkennt er sie und verbietet ihr jedes weitere Fotografieren. Doch obwohl das Spiel vorbei ist, gibt Calle nicht auf. Ihr Versuch, sich in seinem verlassenen Hotelzimmer einzumieten, bleibt ohne Erfolg. Zum Schluß folgt sie dem Mann zurück nach Paris und macht ein letztes Foto als er den Bahnhof verläßt.
Sentimental und romantisch angelegt erzählt Suite Vénitienne nicht nur von Verfolgung und Beobachtung, sondern auch von Begehren, Verführung und dem Verlangen nach dem Anderen. Die Aufzeichnungen der Künstlerin, in denen sich Fakten und persönliche Gedanken abwechseln, offenbaren dieses Verlangen: Ich darf nicht vergessen, daß ich keine verliebten Gefühle für Henri B. empfinde. Dieses Begehren allerdings bleibt einseitig und wird nur durch die Künstlerin bzw. den Betrachter reflektiert. Der Plot ist bekannt und erinnert an unzählige Filme und Fotoromane mit tragischen Heldinnen.

In der 1981 entstandenen Arbeit Der Schatten, die Calle inszeniert, um den fotografischen Beweis meiner Existenz zu erbringenã, wie sie selbst sagt, kehren sich die Rollen um: Die Beobachterin wird selbst zur Beobachteten. Die Künstlerin beauftragt ihre Mutter, einen Privatdetektiv zu engagieren, der sie einen Tag lang beobachten soll. Die Fotos und Aufzeichnungen des Detektivs berichten von einem ganz normalen Tag, den die Beobachtete mit Einkaufen, Bummeln und dem Besuch von Freunden verbringt. Diese Normalität wird aufgehoben durch die Beschreibungen, die Calle selbst für diesen Tag liefert. Sie weiß, daß sie beobachtet wird, verhält sich anders als sonst und inszeniert diesen Tag für ihren Beobachter: Ich habe seinen Tag auf die ungefähr gleiche Weise strukturiert, in der er mich beeinflußt hat ... Gefällt ihm dieser verzettelte, diffuse und flüchtige Tag, den ich ihm angeboten habe - unser Tag.
Indem sie sich selbst den Mechanismen aussetzt, die sie untersucht, offenbart sie deren komplexe Instanzen: der Beobachter, in diesem Fall der Detektiv, wird selbst beim Beobachten beobachtet, und darüber hinaus kommt der Betrachter der Arbeit als zusätzliche Instanz ins Spiel. Deutlicher als in vorangegangenen Arbeiten entlarvt die Künstlerin hier den Mythos von der Information. Die Aufzeichnungen des Detektivs tragen in keiner Weise zu einer Annäherung an das Subjekt Sophie Calle bei. Weder liefern Fotos oder Texte irgendeine Art von wirklicher Information noch fördern sie den Wissensprozeß. Durch solch eine Inszenierung wird die Möglichkeit von Erkenntnis über die wahre Identität eines anderen Menschen in Frage gestellt: denn wie können wir etwas über ihn erfahren, wenn er sich unter unserer Beobachtung verstellt? Was wir sehen, kann immer nur die Rolle sein, die er für uns spielt.

Informationsbeschaffung als Mittel der Annäherung ist auch das Thema von Das Hotel (1983), eine Arbeit, die nach Aussage der Künstlerin an Suite Vénitienne anknüpft: "Es ist eine Arbeit, die ihren Ursprung in Suite Vénitienne hat. Ich verbrachte in Venedig Stunde um Stunde damit darauf zu warten, daß er aus seinem Hotel kommt. Jedesmal, wenn ich ihn in der Stadt aus den Augen verlor, kehrte ich zum Hotel zurück. Ich träumte davon in sein Zimmer zu gehen. Mein Versuch, im selben Hotel ein Zimmer zu mieten scheiterte. Also hatte ich diese Phantasien darüber, wie sein Zimmer sei und wie man sich darin fühlen würde. Als ich nach Venedig zurückkehrte, versuchte ich einige dieser Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen."
Sophie Calle arbeitet für drei Wochen als Zimmermädchen in einem venezianischen Hotel und nutzt die Abwesenheit der Gäste, um die Zimmer zu durchsuchen - der Alptraum eines jeden Hotelgastes. Sie schnüffelt herum, öffnet Koffer, liest Tagebücher und Post. Sie fotografiert den Inhalt von Schränken, die zerwühlten Betten und die Badezimmer, in denen gerade gewaschene Unterwäsche über der Wanne tropft. Nichts ist vor ihr sicher, und so entsteht ein Panorama aus Bruchstücken fremder Leben, das von alltäglichen menschlichen Gewohnheiten erzählt. Die neutral gehaltenen Aufzählungen des Vorgefundenen werden immer wieder durch teilweise fiktive Passagen ergänzt, in denen Calle versucht, anhand der Dinge einen Teil der Lebensgeschichte des jeweiligen Besitzers zu rekonstruieren. Das Scheitern aller Rekonstruktionsversuche ist mitdokumentiert, denn es entsteht kein Bild einer konkreten Person. Der Betrachter wird als Komplize in das Vorgehen der Künstlerin einbezogen und dabei zugleich mit seiner eigenen voyeuristischen Lust konfrontiert. Mit erschreckender Deutlichkeit thematisiert diese Arbeit den Einbruch des Öffentlichen ins Private.

Die Verletzung der Privatsphäre und das Ausbreiten intimster Details vor der Öffentlichkeit erscheinen in zugespitzter Form wieder in Der Mann mit dem Adressbuch (1983). Sophie Calle findet das Notizbuch eines gewissen Pierre D. und fotokopiert es, bevor sie es an ihn zurückschickt. Mit Hilfe der darin aufgelisteten Personen soll ein möglichst vielfältiges verbales Porträt von Pierre D. entstehen. Calle interviewt seine Freunde, Verwandten, Arbeitskollegen und entfernten Bekannten, die alle bereitwillig Informationen ausplaudern. Peu à peu werden immer neue Details seiner Biografie, seines Aussehens, seiner Angewohnheiten und Charaktereigenschaften enthüllt. Vom 2. August bis zum 4. September erscheinen die Ergebnisse der Interviews, jeweils von einem Foto begleitet, täglich in der französischen Zeitung Libération. Die Künstlerin arbeitet hier bewußt mit den Mitteln von Skandalpresse, Fortsetzungsroman und Filmserien, wobei die Erwartungen der Leserschaft immens gesteigert werden: man wartet begierig auf die nächste Enthüllung. Heftigste Diskussionen über die moralischen Aspekte solcher Arbeiten werden ausgelöst, aber nur die wenigsten solidarisieren sich mit dem Opfer. Die meisten finden diese Serie öspanspannender als Dallasã und freuen sich auf jede neue Folge. Als Pierre D. sich in einem der Artikel wiedererkennt, verlangt er von der Zeitung das Recht einer Entgegnung und läßt ein Foto von Calle abdrucken: sie ist nackt und nur ihr Gesicht ist durch einen weißen Fleck unkenntlich gemacht. Ihre Anonymität bleibt gewahrt, doch ihre Identität wird enthüllt und damit wendet sich das Spiel gegen sie selbst.

1984 erhält Sophie Calle vom französischen Außenministerium ein viermonatiges Stipendium für New York. Da sie nicht in einer Stadt arbeiten will, die sie schon kennt und in der sie sich wohl fühlt, entscheidet sie: (...) daß ich an einen Ort gehen würde, den ich mir freiwillig niemals ausgesucht hätte. Und das ist Japan. Die Vorstellung, nach Japan zu gehen und dort für eine so lange Zeit zu bleiben, bedeutete solches Leid, weil ich mir nicht einmal vorstellen kann dort für 24 Stunden zu sein. Also hatte ich die Idee mit dem Zug dorthin zu reisen, durch Rußland, die Mongolei und China ... den längsten Weg. In der Transsibirischen Eisenbahn teilt die Künstlerin das Abteil von Moskau bis Wladiwostok mit einem sechzigjährigen Russen. Er spricht kein Französisch, sie nicht Russisch. Mißverständnisse bilden die Basis einer merkwürdigen Freundschaft. Anatoli, so der Titel der Arbeit, die aus diesem Erlebnis entsteht, dokumentiert mit hunderten von Fotos diese erzwungene und ungewöhnliche Intimität. Fotografie dient hier als Mittel der Annäherung, um das Fehlen der gemeinsamen Sprache zu überbrücken. Die Wahrnehmung des anderen bleibt auf das visuelle Moment beschränkt.

Anatoli markiert einen Wendepunkt in der Vorgehensweise der Künstlerin. Das mehr oder weniger anonyme Observieren, das die Voraussetzung aller bisherigen Arbeiten bildete, wird aufgegeben zugunsten von Befragung und einer direkteren Konfrontation mit  den Beteiligten, wie etwa für Die Blinden (1986). Diese Arbeit ist mit Sicherheit eine der provokantesten, denn sie bricht mit Tabus und untergräbt Vorstellungen dessen, was moralisch und gesellschaftlich erlaubt ist. Sophie Calle befragt mehrere blind geborene Menschen zu ihrer Vorstellung von Schönheit. In der fertigen Arbeit besteht jede Gruppierung aus einem schwarz-weiß Porträt des Befragten, seiner Antwort als gerahmtem Text und einem oder mehreren Farbfotos, in denen das Beschriebene, wie z.B. die Mutter, der Sohn, Haare, Schafe oder eine Skulptur von Rodin wiedergegeben wird. Die Künstlerin äußerte zu dieser Arbeit: "Ich begegnete auf der Straße einer Gruppe blinder Menschen und einer von ihnen sagte zu seinen Freunden `Ich habe gestern einen schönen Film gesehen´. Ich brauchte zwei Jahre, um diese Arbeit zu beenden. Ich hatte Angst vor dem grausamen Element, das enthalten ist, wenn man einen blinden Menschen fragt, was Schönheit ist."
Das Verstörende dieser Arbeit besteht darin, daß Blinde zu etwas befragt werden, von dem man gemeinhin voraussetzt, daß es gesehen werden muß, um wahrgenommen und beschrieben werden zu können. Darüber hinaus wird die Anonymität der Subjekte hier nicht gewahrt: durch ihr jeweiliges Porträt sind sie den Blicken des Betrachters schonungslos ausgesetzt. Und auch hier stehen wir wieder der Idee gegenüber, zu beobachten, ohne beobachtet zu werden, weshalb von Kritikern auch von einer ausbeuterischen Konstruktion gesprochen wurde. Allerdings läßt sich an dieser Arbeit ein verändertes Verhältnis der Künstlerin zu ihren Subjekten ablesen: Die kühle, analytische Distanz wird zugunsten eines direkteren und emotionaleren Kontaktes aufgegeben. Sophie Calle Îleihtâ den Befragten ihre Augen, um den verbalen Beschreibungen ein visuelles Äquivalent zu geben.
1991 entsteht noch einmal eine ähnliche Arbeit zur Wahrnehmung blinder Menschen. Color Blind (Farbenblind) stellt Texte über monochrome Malerei von Künstlern wie Gerhard Richter, Yves Klein, Robert Rauschenberg und Kasimir Malewitsch Aussagen von Blinden zu solchen Gemälden gegenüber. Auf den Fotos sind die blinden Interviewpartner jeweils in Museen oder Galerien vor monochromen Bildern zu sehen.

Auch The Detachment - Die Entfernung (1996) basiert auf der Befragung und zeigt, wie sehr Wahrnehmungen divergieren, wie differenziert menschliches Sehen funktioniert und wie trügerisch Erinnerungen sein können. Sophie Calle besucht 1994 zum erstenmal Berlin und macht sich auf die Suche nach den Spuren, die die politischen Umwälzungen nach der Wiedervereinigung hinterlassen haben. Ihr besonderes Interesse gilt dabei jenen Denkmälern und Emblemen des kommunistischen Herrschaftssystems, die sukzessive aus der Öffentlichkeit entfernt wurden. Um diesen Vorgang zu dokumentieren, suchte ich Orte auf, von denen Symbole der DDR-Geschichte entfernt worden sind. Ich bat Passanten und Anwohner, die Gegenstände zu beschreiben, die einst diese leeren Stellen füllten. Ich fotografierte die Abwesenheit und ersetzte die fehlenden Monumente durch die Erinnerungen an sie.ã Die aneinander gereihten Zeugenaussagen zu ein und demselben Gegenstand, wir z.B. dem Lenin-Denkmal, sind ungenau und widersprechen sich erheblich: Auf der einen Seite machte er den Eindruck eines freundlichen Onkels, nichts Bedrohliches, verbindlich. Das Das Gesicht war furchtbar. Vor allem wenn er nachts angestrahlt wurde. Verbissen. Er war als freundlicher Mensch dargestellt. Schön? Nein, schön war er nicht. Diesen Aussagen werden im Buch zur Arbeit Archivaufnahmen der intakten Denkmäler gegenübergestellt: Einerseits die emotionale und subjektive Aufladung der Beschreibungen, andererseits der nüchterne Sachverhalt. Eine Rekonstruktion dieser Sachverhalte nur anhand der Beschreibungen aber muß scheitern. Sie dokumentieren vielmehr die Abwesenheit und den darin liegenden Verlust.

Abwesenheit und Verlust wurden von der Künstlerin auch in der Arbeit Die Gräber (1990) thematisiert. Für diesen vielteiligen Werkkomplex hat Sophie Calle Aufnahmen von Grabstätten gemacht, auf deren Steinen jeweils nur eine Verwandschaftsbezeichnung zu finden ist, wie Vater, Mutter, Schwester, Sohn usw. Die Fotos werden einzeln oder in Gruppen zusammengestellt und häufig auf dem Boden liegend installiert. Die Assoziationen mit einer typischen Friedhofsarchitektur, die durch diese Art der Installation anklingen, werden jedoch wieder gebrochen: Betrachter und Raum spiegeln sich in der Glasrahmung der einzelnen Fotos. Im Unterschied zu früheren Arbeiten gibt es hier keinen begleitenden Text, der bei der Rekonstruktion behilflich sein könnte. Die Toten sind lediglich anhand der Rolle, die sie im Leben anderer Menschen einmal gespielt haben könnten, zu identifizieren.

Das anonymisierte Observieren und die Befragung anderer Menschen findet ein Gegengewicht im persönlichen Engagement der Künstlerin, die sich dabei nichts schenkt. Sophie Calle macht bei ihren Recherchen zu Privatheit, Erinnerung und Wahrnehmung auch vor dem eigenen Leben nicht halt. In Autobiographische Geschichten (seit 1988) beschwört sie eigene Erinnerungen, offenbart geheimste Gefühle, Wünsche und Ängste und gibt sie zum öffentlichen Gebrauch frei. Fotografien eines einzelnen Objektes, von Personen, Orten oder Ereignissen stellt die Künstlerin jeweils einen Text gegenüber, der Episoden aus ihrer Vergangenheit beschreibt. Eine der Geschichten erzählt von einem Mann, den sie schon als junges Mädchen sehr bewunderte. Im Alter von 30 Jahren beschließt sie, ihm ihre Gefühle zu offenbaren und besucht ihn. Im Koffer hat sie ein weißes Hochzeitskleid aus Seide. Der letzte Satz des Textes lautet: Ich werde es in unserer ersten gemeinsamen Nacht tragen. Dieses Kleid, faltig und zerknittert, wird auf dem zugehörigen Foto gezeigt. Wie in anderen Arbeiten zuvor, wird auch hier wieder die Unzulänglichkeit von Sprache und Bild und die Lückenhaftigkeit der vermittelten Erfahrung thematisiert. Ob diese visuellen und verbalen Rekonstruktionen wahre Geschichten oder Fiktionen sind muß der Betrachter selbst entscheiden.

Eine weitere Arbeit im Bereich der Beobachtung und Erinnerung des eigenen Lebens ist Birthday Ceremony (Geburtstagszeremonie) von 1997, in der die Künstlerin uns anhand von Geburtstagsgeschenken an 15 Jahren ihres Lebens teilhaben läßt. "Ich bin immer besorgt, daß die Leute mich an meinem Geburtstag vergessen. Um mich von dieser Angst zu befreien, entschied ich 1980, daß ich jedes Jahr, wenn möglich am 9. Oktober, genau die Anzahl an Gästen zum Abendessen einladen würde, die der jeweiligen Anzahl meiner Lebensjahre entspricht. Einschließlich eines Fremden, den einer meiner Gäste aussuchen sollte. Ich machte keinen Gebrauch von den erhaltenen Geschenken. Ich behielt sie als Zeichen der Zuneigung. 1993, im Alter von vierzig Jahren, beendete ich dieses Ritual." Für jedes Jahr gibt es eine Glasvitrine, in der die Geschenke präsentiert werden. Jeder Vitrine ist ein Text zugeordnet, der den Inhalt akribisch auflistet. Wir lernen einige Freunde der Künstlerin kennen (es gibt Geschenke von Bruce Nauman, Annette Messager oder Miquel Barcelo) und erfahren etwas über ihre Vorlieben (wie etwa ihre Leidenschaft für Spanien). Wir erfahren nichts über das Bild, daß die Künstlerin von sich selbst hat, aber um so mehr von dem Bild, daß sich ihre Freunde von ihr machen - es entsteht eine Art unparteiisches Selbstportrait.

Auch in dem Film No Sex Last Night von 1992 (in der Videoversion Double Blind betitelt) erfährt man etwas über Sophie Calle. Der Film entsteht in Zusammenarbeit mit Greg Shephard und verdoppelt die Perspektive des Beobachtens. Es ist eine Art Road Movie, der von der Reise der beiden Künstler im Cabriolet durch die USA und ihrer Hochzeit in Las Vegas erzählt. Beide Beteiligten filmen sich dabei gegenseitig. Die Bilder sind mit Kommentaren aus den jeweiligen Reisetagebüchern der beiden Protagonisten unterlegt. Aufnahme und Gegenaufnahme werden eingesetzt um zwei entgegengesetzte Perspektiven zusammen zu bringen, und so erzählt der Film mehrere Geschichten gleichzeitig: von Shephards Absicht, einen Film zu drehen und von ihrem Ziel, zu heiraten. Anders als in früheren Arbeiten, setzt Calle sich bewußt ihrem Gegenüber aus und bringt Shephard als Koautor und Komplizen ins Spiel. Das Objekt der Künstlerin wird zum aktiv handelnden Subjekt. Beide gemeinsam bestimmen die Regeln des Spiels in wechselseitiger Auseinandersetzung.

Ein weiterer Komplex von Arbeiten der französischen Künstlerin steht in engem Zusammenhang mit dem Roman Leviathan (1992) von Paul Auster. Der amerikanische Schriftsteller, der sich in seinen Büchern immer wieder mit der Problematik von Identitätsfindung und Identitätsverlust auseinandersetzt, hat für seine Romanfigur Maria Turner Anleihen aus dem Leben und den Arbeiten von Sophie Calle genommen (wie etwa Suite Vénitienne, Der Schatten oder Das Hotel). Darüber hinaus hat er für Maria aber auch Arbeiten erfunden, die nicht von Sophie Calle waren. So schreibt er etwa, daß sich Maria in manchen Wochen Farbkuren unterwarf und jeden Tag nur Lebensmittel einer bestimmten Farbe aß oder in anderen Phasen ganze Tage unter dem Bann eines bestimmten Buchstabens des Alphabetes verbrachte. Diese Fiktionen werden wiederum von Sophie Calle in die Realität umgesetzt: "Um wie Maria zu sein, aß ich in der Woche vom 8. - 14. Dezember 1997 am Montag Orange, am Dienstag Rot, am Mittwoch Weiß und am Donnerstag Grün. Da Paul Auster seiner Figur an den anderen Tagen frei gegeben hatte, machte ich den Freitag Gelb und den Samstag Lila. Ich entschied, den Sonntag dem vollen Farbspektrum zu widmen und richtete die sechs über die Woche getesteten Menüs für sechs Gäste an." So entsteht die Arbeit Die chromatische Diät (1998). Auch die Idee, Tage unter dem Motto eines Buchstabens zu leben, wird von Calle aufgegriffen. Für B, C, W (1998) inszeniert sie dann unter dem Buchstaben W ein Weekend in Wallonien mit Whiskey, Walkman, Musik von Wagner und Büchern von Walt Whitman. Durch die exakte Befolgung der Anweisungen des Autors wird Calle zum realen Abbild ihres eigenen literarischen Abbildes. "Es geht in der Arbeit mit Paul Auster nicht um die materiellen Aspekte von Kunstwerken", sagt die Künstlerin, "sondern um die Idee, einem Roman zu gehorchen wie dem eigenen Schicksal." Schließlich geht sie soweit, Paul Auster um einen fiktiven Text zu bitten, dem sie dann ein Jahr lang gehorchen wollte. Auster jedoch lehnt die damit einhergehende Verantwortung ab und schickt Persönliche Instruktionen für Sophie Calle wie das Leben in New York City zu verbessern istã. Diese Anweisungen behandeln das Lächeln, das Reden mit Fremden, den Umgang mit Bettlern und Obdachlosen oder die Kultivierung eines bestimmten Platzes. Und so verbringt Sophie Calle sieben Tage lang mehrere Stunden in einer von ihr gereinigten und liebevoll geschmückten Telephonzelle in New York. Sie verteilt Lächeln, Sandwiches und Zigaretten und führt über die Verteilung genau Buch. Sie spricht mit Passanten, fotografiert sie und führt über die Gespräche Protokoll. Die Aktion wird nach einer Woche von der New Yorker Telefongesellschaft unterbunden. Die Ergebnisse dieser Übung in Gehorsamkeit werden unter dem Titel Das Gotham Handbuch (1994/98) veröffentlicht.
Erinnerung
Der Begriff Erinnerung ist eine allgemeine Bezeichnung für ein bewußtes Ins-Gedächtnis-Rufen bestimmter Erfahrungen bzw. Teilerfahrungen zu einem gegebenen Zeitpunkt und somit ein spezieller Aspekt des  Gedächtnisses. Erfahrungen beruhen auf Lernen und Wahrnehmung, also dem Gewinnen von Informationen; sich erinnern bedeutet, daß man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Bild von etwas gemacht hat. Aber wie und an was erinnern wir uns? Wer erinnert sich an was? Wie werden wir selbst von anderen erinnert? Wie zuverlässig sind Erinnerungen? Welche Formen nehmen sie an?
Diese und ähnliche Fragen stellt Sophie Calle immer wieder neu. So etwa in den Autobiographischen Geschichten, die ein ÎIns-Gedächtnis-Rufenâ der eigenen Biographie sind. Sie erzählt vom Vater und den Großeltern, von einem Restaurantbesuch, von ihrem ersten Liebhaber, von ihrer Arbeit als Stripperin, von Liebesbriefen und Kleidungsstücken. Jeder dieser kurzen Texte wird von einem einzigen Foto illustriert, das die jeweiligen Erlebnisse beglaubigen soll. Aber war es wirklich so? Kann man Sophie Calle glauben? Eine seltsame Irritation stellt sich ein, denn obwohl diese Fotos und Texte Dokumentationen einer bestimmten Biographie sind, erscheinen sie fiktiv - sie könnten auch zu einer anderen Person gehören. Man erfährt nichts über die wahre Identität der Sophie Calle, denn ihre Memoiren erzählen nichts von persönlichen Empfindungen gegenüber der eigenen Geschichte: sie erscheinen gleichsam gereinigt und losgelöst von allen Emotionen. Hinter dieser Distanzierung scheint eine Absicht zu stehen, die man als Suche nach dem Selbst bezeichnen könnte, als einen Versuch, dem eigenen Ich, was auch immer das sein mag, auf die Spur zu kommen. Objektivierung wird zum Mittel der Selbsterkenntnis. Die Zweifel der Künstlerin an der Möglichkeit der Rekonstruktion und an der Verlässlichkeit von Erinnerungen werden auf den Betrachter übertragen. Die Autobiographie im herkömmlichen Sinn, als geglaubte Möglichkeit der Annäherung an die Identität eines anderen Menschen, versagt. Die Spuren, die wir finden, verstellen den Blick.

Arbeiten wie Der Mann mit dem Adressbuch hingegen stellen den Versuch dar, das Leben eines anderen Menschen, bzw. ein fremdes Ich, aus Erinnerungen zu rekonstruieren. Das Opfer wird eingekreist, um ihm auf die Spur zu kommen. Sophie Calle fragt mehr als 30 Personen nach Pierre D. und kreiert aus deren Beschreibungen ein vielfältiges Bild. Dieses Bild scheint auf den ersten Blick annähernd der Wirklichkeit zu entsprechen, denn Pierre D. erkennt sich eines Tages  wieder und protestiert energisch gegen diesen Einbruch in seine Privatsphäre. Aber hat er sich wirklich erkannt? Die Informationen seiner Freunde und Bekannten sprechen bei genauerer Betrachtung gegen ein solches Wiedererkennen. Die Texte beschreiben zwar sein Aussehen und seine Charaktereigenschaften, aber in erster Linie thematisieren sie die jeweilige Beziehung des Befragten zu Pierre D. Die Erinnerungen beziehen sich auf bestimmte Rollen, die er im Leben anderer Menschen spielte. Das Subjekt Pierre D. verschwindet immer mehr hinter dem konstruierten Bild und wird zum Phantom. Er wird anhand hinterlassener Spuren erinnert, als Schatten seiner selbst. Die Zeugenaussagen beschreiben ihn als Îeine Wolke in Hosenâ und sagen, er sei fähig zu verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und als Sophie Calle das erste Mal bei ihm anruft, sagt sein Anrufbeantworter: Ich bin abwesend. Ich bin nicht da. Die Fotos zeigen Orte, an denen er sich aufhielt und Dinge, die er gerne mochte. Sie sind, deutlicher als die Texte, Signaturen seiner Abwesenheit. Seine wahre Identität wird förmlich ausgelöscht und von der Künstlerin vereinnahmt. Die Entrüstung von Pierre D. zielte genau auf diese imaginäre Bedrohung des Ich.
Jeder Versuch der Annäherung an den Anderen entspricht dem  Wunsch, die Differenz zu überwinden und durch diese Überwindung etwas von sich selbst zu erfahren. Dies soll aber gleichzeitig aus sicherer Distanz geschehen, um die eigene Identität nicht zu gefährden. Die Schizophrenie, die darin liegt, spiegelt sich in Calles Vorgehensweise. Annäherung wird als die Erfahrung von Grenzen dokumentiert, denn Beobachtung und Verfolgung sind, ebenso wie die Vereinnahmung des anderen Ich, inszenierte Erinnerungen. Informationen, die die Künstlerin gibt, seien sie  bildlicher oder sprachlicher Natur, helfen nicht weiter. Sie sind unzulänglich, unpräzise und ungewiß, da sie sich aus Spuren, Beschreibungen, Hinweisen und Vermutungen zusammensetzen. Die Rekonstruktion in Form eines Puzzlespiels mißlingt. Und so wie die Erinnerungen bei der Rekonstruktion eigener Identität versagen, helfen sie auch nicht bei der Rekonstruktion des Anderen. Sie sind in diesem Zusammenhang lediglich ein Spiegel subjektiver Vorstellungen und Erwartungen und sagen nur etwas über eigene Projektionen aus.

Die Arbeit Die Blinden stellt im Zusammenhang der Nachforschungen über Erinnerung ein Paradox dar, denn es scheint auf den ersten Blick widersinnig, Menschen ohne visuelle Wahrnehmung nach ihren Vorstellungen von Schönheit zu fragen. In den Aussagen der Befragten werden aber tatsächlich zweierlei Arten von Wahrnehmung beschrieben, die sozusagen ein Äquivalent zur visuellen Wahrnehmung bilden. Da ist zum einen der taktile Blick, der in Aussagen zum Vorschein kommt, die sich mit dem Erinnern an Berührungen beschäftigen, durch das ein imaginäres Sehen in Gang gesetzt wurde: die Haare der Mutter, eine Skulptur von Rodin, Wolle von Schafen, usw. Ein weiteres Äquivalent bildet die Erinnerung von Sprache: die Blinden nennen Vorstellungen, die ihnen ganz offensichtlich von anderen Menschen als schön beschrieben wurden, wie den eigenen Sohn, Alain Delon oder Fische. Dieses Erinnern von Sprache ist gleichbedeutend mit einer Entfremdung von sich selbst, da die Wahrnehmung anderer Menschen die Lücken eigener Wahrnehmung füllt. Diese Entfremdung wird von der Künstlerin noch dadurch verdoppelt, daß sie die geäußerten Beschreibungen in Fotos umsetzt. Den Blinden werden ihre Bilder gleichsam genommen und dem Gebrauch durch andere ausgesetzt. Gleichzeitig gibt aber diese Veröffentlichung dem Betrachter die Möglichkeit, unbekannte visuelle Bereiche zu erforschen und mit den Spuren eigener Wahrnehmung zu konfrontieren. Die Aneignung fremder Bilder entspricht der Aneignung fremder Identitäten und erinnert an anthropologische Erzählungen, die davon berichten, daß Menschen sich nicht fotografieren lassen, aus Angst man nähme ihnen ihre Seele.
Sophie Calle demonstriert einmal mehr, daß der Versuch, mittels Bild und Sprache etwas über andere zu erfahren, das über unsere eigenen Vorstellungen und Erwartungen hinausgeht, uns etwas von ihrem wahren Wesen enthüllt und uns ihnen näherbringt, zum Scheitern verurteilt ist. Der Betrachter, der die Beschreibungen der Blinden und die dazugehörigen Fotos mit eigenen Erinnerungen vergleicht, wird auf sich selbst zurückverwiesen. Er findet in den klischeehaften Beschreibungen dessen, was schön ist, eigene Wahrnehmungen wieder und entdeckt, daß seine individuell-subjektiv begriffenen Vorstellungen im Grunde erschreckend gleichförmig sind. Der Künstlerin gelingt es in besonderem Maße, die Methoden unserer Wahrnehmung und Selbstidentifikation in Frage zu stellen. Sie zeigt, wie unsicher und illusionär unsere sicher geglaubte Realität, zu der insbesondere unsere Erinnerungen beitragen, tatsächlich ist. Was wir erinnern sind Spuren und Fragmente. Das Ausforschen der Bereiche Wahrnehmung und Erinnerung kommt damit einem Angriff auf unsere Identität gleich.

Die Fotografie spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle und ist von der Künstlerin sicherlich nicht zufällig gewählt. Calle stellt die traditionellen Wahrheitskriterien der Fotografie in Frage, indem sie die Gegensätze von Dokument und Erfindung, Wirklichkeit und Fiktion, Realität und Inszenierung durcheinanderbringt.
Das Foto galt und gilt seit seinen Anfängen in der Porträt- und Visitenkartenfotografie als verläßlicher Garant für die Wahrhaftigkeit des Dargestellten und eignet sich damit besser zum Festhalten von Erinnerungen als die Malerei. Fotos sind Beweisstücke einer bestimmten Biographie oder Geschichte, man denke nur an die eigenen Fotoalben. Darüber hinaus dient das Foto schon bald als Mittel der Identifizierung und Überwachung (z.B. in der Polizeiarbeit). Die Verwendung der Fotografien zur Bestimmung der Identität einzelner läßt keinen Zweifel aufkommen, daß die Fotografie eine sichere Möglichkeit zur Bestimmung von Identität schlechthin darstellt und damit ein geeignetes Mittel sozialer Kontrolle ist. Ein Foto zu machen ist gleichbedeutend mit Besitzergreifung:Die einfachste Form dieser Besitzergreifung besteht darin, daß wir mit der Fotografie das Surrogat einer geliebten Person oder eines geschätzten Gegenstandes besitzen - ein Umstand, durch den die Fotografie etwas von einem einmaligen Objekt erhält. Daneben entsteht durch die Fotografie eine Konsumenten-Beziehung zu Ereignissen, die Teil unserer Erfahrungen sind, aber auch zu solchen, die es nicht sind - ein Unterschied zwischen Erfahrungsweisen, die ein solches gewohnheitsprägendes Konsumieren verunklärt. Eine dritte Form der Besitzergreifung besteht darin, daß wir uns mit Hilfe von Bildproduktions-und Bildvervielfältigungsmaschinen etwas (statt als Erfahrung) als Information aneignen können. (Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt am Main 1980)
Diese Form der Aneignung von Welt findet allerdings nur fragmentarisch statt, da Fotos lediglich in Ausschnitten abbilden. Darüber hinaus sind Beschreibungen, ob visuell oder sprachlich, keine objektiven Prozesse, sondern Interpretationen nach bestimmten Maßstäben: man muß immer fragen, wer beschreibt und warum er dies tut. Der Fotograf sucht sein Motiv unter bestimmten Gesichtspunkten und Absichten aus, die sich im Bild widerspiegeln. Dies gilt für alle Fotografie, sei es Kunst-, Dokumentar- oder Amateurfotografie. Mit jedem Foto, das wir sehen, wird uns eine subjektive Ansicht vermittelt.
Das Fotografieren ist zum gesellschaftlichen Ritual geworden. Jeder besitzt einen Fotoapparat durch den er die Welt wahrnimmt. Erfahrungen werden nicht mehr selbst gemacht, sondern in Abbilder, in eine bestimmte Sehweise verwandelt. Auf der Suche nach dem besten Motiv und der Dokumentation von Ereignissen, bleibt keine Zeit, an diesen Ereignissen teilzunehmen. Und obwohl ein Foto die Teilnahme an etwas Geschehenem bezeugen soll, zeigt es tatsächlich nur den Moment der Distanz. Die Fotos werden zum Substitut für Erfahrungen und damit auch für Erinnerungen. Die Realität ist das Andere, dem wir mit Hilfe der Fotografie glauben, auf die Spur kommen zu können. Unsere Wahrnehmung wird durch Bilder codiert, die die Realität nicht mehr in ihren Funktionen wiedergeben, sondern lediglich als Abbilder. Erfahrung und Erinnerung sind entfremdet. Sie sind austauschbar, nicht an bestimmte Subjekte gebunden und somit übertragbar. Diese Entfremdung deutlich zu machen, ist zentraler Bestandteil der Arbeiten von Sophie Calle, wobei in ihren Ritualen so etwas wie Hoffnung auf Überwindung dieser Entfremdung und Wiederherstellung von Identität und Intimität anklingt.
Schatten
Ein weiterer zentraler Bestandteil in Calle´s Werk ist die Dualität von Abwesenheit und Anwesenheit. Zum einen ist die Künstlerin selbst abwesend. In vielen ihrer Arbeiten taucht sie physisch nicht auf, sondern nur als Regisseurin hinter den Bildern oder im Rahmen der Texte. Und selbst wenn sie zu sehen ist, dann nur in einer Rolle oder verborgen durch eine Maske. Aber gerade durch dieses Zurücktreten und die Distanz der heimlichen Beobachtung ist die Künstlerin sehr präsent. Sie ist der Schatten, der auf das Leben anderer fällt. Geisterhaft verfolgt sie fremde Menschen, nimmt deren Spuren in Besitz und wird zum Doppelgänger. Die Unsichtbarkeit von Sophie Calle macht sie zu einer imaginären Bedrohung für ihre Opfer. Jeder kennt die Ängste, die aufkommen bei dem Gefühl, verfolgt zu werden und nicht zu wissen von wem oder was.

Der Begriff des Schattens hatte im Lauf seiner Geschichte unterschiedliche Bedeutungen. Bei Naturvölkern galt er als das zweite Ich oder die eigentliche Seele des Menschen. Als Doppelgänger wurde er damit zur Versicherung gegen den Tod des Ich und zum Symbol für Unsterblichkeit. Sumerer und Griechen glaubten, daß die Toten in der Unterwelt ein schattenhaftes Dasein führen, und Pindar sah im Schatten eine Metapher für menschliche Vergänglichkeit. Im Vergleich zur Hitze ist Schatten gleichbedeutend mit Schutz, im Gegensatz zum Licht wiederum verweist er auf die dunkle Seite des Lebens. C.G. Jung versteht unter dem Schatten die nicht bewußt gelebte Seite der Persönlichkeit und im kollektiven Unbewußten symbolisiert der Schatten das archetypische Böse. Die Vorstellungen vom Schatten als mythischem Doppelgänger und Schutz haben sich dahingehend gewandelt, daß man ihn heute als bedrohlich und unheilvoll empfindet.

Aber nicht nur die Künstlerin selbst, auch ihre Subjekte sind oft genug abwesend oder werden zum Verschwinden gebracht. In Der Mann mit dem Adressbuch oder Suite Vénitienne sind es nicht so sehr die Menschen selbst, die Calle verfolgt, sondern deren Nicht-Vorhandensein. Henri B. und Pierre D. werden immer unwirklicher und geheimnisvoller, je länger sie beobachtet werden. Sie werden förmlich ausgelöscht und zu Schatten ihrer selbst gemacht. Dieses symbolische Sterben des Ich schafft der Künstlerin und dem Betrachter Raum für eigene Projektionen, macht aber gleichzeitig die Bedrohlichkeit dieser Arbeiten aus. Es könnte jeden von uns treffen. Es lassen sich noch weitere Beispiele für die zentrale Bedeutung des Nicht-Vorhandenseins anführen. Die Arbeit Anatoli etwa entsteht aufgrund des Fehlens einer gemeinsamen Sprache. Die Abwesenheit der Hotelgäste ist Voraussetzung für die Anwesenheit von Sophie Calle in den Zimmern und macht das Entstehen von Das Hotel überhaupt erst möglich. The Detachment - Die Entfernung ist bezeichnend für den unwiederbringlichen Verlust, der der Abwesenheit innewohnt und thematisiert dies bereits durch den Titel. Der Verlust ist immer mit Gefühlen der Trauer verbunden und der Angst, selbst zu verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Diese Gefühle klingen an, wenn die Künstlerin als Motivation für Der Schatten angibt, mit dieser Arbeit einen Beweis der eigenen Existenz erbringen zu wollen: Fotografie als Versicherung gegen die ultimative Abwesenheit.

Die Dualität von Anwesenheit und Abwesenheit und die damit verbundenen Emotionen kommen am deutlichsten in der Arbeit Die Gräber zum Vorschein. Gräber sind Orte der Erinnerung an abwesende Menschen und der Trauer über deren Verlust. Grabsteine und ihre Inschriften setzen durch die konkreten Datierungen immer ein Denkmal für jeweils ganz bestimmte Menschen. Man erfährt den Namen, den Geburtstag und -ort und den Todestag. Auf den Grabsteinen dieser Arbeit aber fehlen die genauen Angaben zu den verstorbenen Menschen. Obwohl die Inschriften den familiären Status angeben, der so vertraut ist, sind sie doch unbestimmt und verwirrend. Die Toten bleiben mysteriös und verborgen, sie werden als das gezeigt, was sie sind: Schatten. Die Duplizität von Vertrautheit und Anonymität läßt diese Toten geheimnisvoll und unheimlich erscheinen. Sich an verstorbene Menschen zu erinnern, bedeutet eine Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit, denn das Abwesende wird ins Leben zurückgeholt. Das Erinnern evoziert aber auch die eigene Sterblichkeit, die in der Regel verdrängt wird. Der Einbruch des Verdrängten in die Realität ist mit qualvollen Gefühlen und Angst verbunden, die sich nicht in einer Projektion auf das Andere aufheben lassen - auf den Fotos sind keine anderen. Die Wiederkehr der Toten als Schatten in Die Gräber entspricht in ihrer Unheimlichkeit dem irrationalen Glauben an die Rückkehr der Toten in das Leben, der z.B. im Genre des Horrorfilms oder in der Tradition der amerikanischen Halloween-Feiern zum Ausdruck kommt. Dieser primitive Glaube, der trotz der modernen Skepsis gegenüber Tod und Wiederauferstehung immer noch ungebrochen vorhanden zu sein scheint, wird von Calle aufgedeckt und bestätigt
Die Aufhebung der Grenzen zwischen Realität und Imagination, zwischen dem Vertrauten und dem Unheimlichen, bewirkt eine unmittelbare Bedrohung des Betrachters. Man kann sich diesen Bildern nicht entziehen, genauso wenig wie den eigenen Verdrängungen. Durch die familiären Inschriften und deren Anordnung in bestimmten Konstellationen, wie z.B. Mutter/Vater, Vater/Sohn oder Mutter/Tochter, thematisieren diese Fotos auch die Anwesenheit eigener Familienangehöriger im Leben. Die damit einhergehende Beschwörung möglicherweise bestehender Konflikte und Komplexe zwingt wiederum zur Auseinandersetzung. Die Gleichzeitigkeit von Tod und Leben als extreme Pole, wie sie in Die Gräber dargestellt wird, verweist über die Arbeit hinaus auf Grundfragen der menschlichen Existenz.

Fotos sind selbst Schatten, Doppelgänger und Zeichen für die Dualität von Anwesenheit und Abwesenheit. Die Technik der Fotografie besteht in der Einwirkung von Licht auf bestimmte Substanzen. Ein Foto zeigt also niemals den aufgenommenen Menschen oder Gegenstand, sondern nur dessen zurückgeworfene Lichtstrahlen und damit seine Konturen, seinen Schatten. Erst über den Umweg des Negativs kann das eigentliche Bild entstehen. Ein Foto ist immer ein Doppelgänger des in ihm dargestellten Modells. Fotografieren heißt, einen ontologisch einzigartigen Moment festzuhalten und zu verdoppeln. Reproduktion ist damit gleichbedeutend mit dem Verlust der Einzigartigkeit.
Alles Vergangene kann wiederkehren wie die Toten bei Sophie Calle. Dieses Dokumentieren von Vergänglichkeit wird noch verstärkt, denn fotografische Aufnahmen machen Menschen zu Objekten und kommen damit einem imaginär vorweggenommenem Sterben gleich. Die Analogie von Fotografie und Tod ist unübersehbar und wird immer wieder beschrieben. Roland Barthes sieht eine Beziehung zwischen dem Verschwinden des Todes aus der Gesellschaft und der Erfindung der Fotografie: Denn in einer Gesellschaft muß der Tod irgendwo zu finden sein; wenn nicht mehr (oder in geringerem Maße) in der religiösen Sphäre, dann anderswo (...) Die Photographie könnte als Erscheinung, die mit dem Schwinden der Riten einhergeht, vielleicht mit dem Vordringen eines asymbolischen Todes in unserer modernen Gesellschaft korrespondieren, eines Todes außerhalb von Religion und Ritual, einer Art von plötzlichem Eintauchen in den buchstäblichen Tod. (Roland Barthes, Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989)
Fotografie bedeutet aber auch, wie eine magische Handlung, etwas durch ein Bild zu bannen und kann so zu einem Mittel der Abwehr von Ängsten werden. Mit Hilfe eines Bildes bringt man etwas in seinen Besitz und hat darüber Macht. Ein Foto ist also sowohl Zeichen der Vergänglichkeit, wie deren Aufhebung: es garantiert das Überdauern in der Zeit und die Überwindung des Todes. Das Foto ist zum Fetisch geworden für eine Gesellschaft, die den Tod aus dem Leben verbannt hat. Die Arbeiten von Sophie Calle führen diesen Aberglauben vor: sie sind sowohl eindeutige Dokumente der tatsächlich Toten, als auch unheimliche Vorboten unseres eigenen unausweichlichen Todes.
Strategien
Sophie Calle nennt sich selbst eine "erzählende Künstlerin" und betont, daß ihr die Inhalte der Geschichten, die Recherche, die Erzählform und das Endergebnis gleich wichtig sind. Neugier und das Sich-Einlassen auf Situationen bzw. deren Inszenierung als Ritual bilden dabei ihre Motivation. Die Zelebrierung dieser Rituale findet bei Calle in einer Art Performance statt, wobei die Regeln von ihr gesetzt werden, der Ausgang allerdings offen bleibt: "EineEinerseits schaffe ich Rituale, wobei es auf willkürlicher Wahl beruht, wessen allgemeines Schema vorher festgesetzt wird (...) Andererseits besteht jedoch jederzeit die Möglichkeit, daß ich mit Situationen und Emotionen konfrontiert werde, die nicht vorherbestimmt werden können."
Formal arbeitet die Künstlerin mit der Gegenüberstellung von Bild und Text, inhaltlich mit der Vernetzung von Realität und Fiktion. Ihre Werke entstehen nicht im Atelier, sondern als eine Art Feldforschung auf der Straße. Ihre Arbeiten sind sowohl Aussagen über das Wesen der Menschen, als auch über das der Kunst. Die Grenzen werden spielerisch verschoben und unablässig in Frage gestellt. Ihre Kunst ist zugleich referenziell und abstrakt: sie bezieht sich auf konkrete Ereignisse und Erfahrungen und weist doch durch Verallgemeinerung über sie hinaus. Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten steht nicht das künstlerische Schaffen, sondern das menschliche Leben in all seinen Facetten, das sie durch unmittelbare Auseinandersetzung erforscht.
Zu den Strategien der Künstlerin gehören Beobachtung, Befragung, Rollentausch und Maskerade, sowie das Changieren zwischen Nähe und Distanz und die Verknüpfung der eigenen mit fremden Biographien. Variation und Bewegung, die Betrachtung immer gleicher Fragestellungen aus verschiedenen Blickwinkeln machen die Vielschichtigkeit ihrer Arbeiten aus. Kleinste Veränderungen der Ausgangsposition führen dabei zu immer neuen Resultaten. Jede, selbst die alltäglichste Einzelheit ist von Bedeutung. Sophie Calle bewegt sich zwischen Realität und Fiktion und produziert künstlerische Effekte wie z.B. die Verwirrung der Wahrnehmung oder den Bedeutungsschwindel mit ausschließlich biographischem Material, wobei Text und Bild gleichwertig sind. Sie ist keine Fotografin im herkömmlichen Sinn der Kunstfotografie, denn ihre Bilder stellen nichts dar. Realistisch und figurativ, sind sie doch nur neutral beschreibende Dokumente, die ohne die begleitenden Texte sinnlos wären. Calle ist aber auch keine Schriftstellerin. Ihre geradlinigen, zweckmäßigen und pragmatischen Texte sind rein informativer Natur und beziehen sich wiederum auf die visuellen Komponenten. Obwohl die Arbeiten wie Dokumentationen wirken, mit denen das Leben von Menschen rekonstruiert werden soll, kann man nicht von einer soziologischen Kunst sprechen. Diese interessiert sich für kollektive Phänomene und tendiert zu Resultaten und Thesen. Bei Calle wird aber gerade das Singuläre und damit Individuelle betont, das sich keinen Gesetzmäßigkeiten unterordnen läßt. Jeder ihrer angestrebten Rekonstruktionsversuche scheitert und dokumentiert in diesem Scheitern gerade die Subjektivität menschlicher Wahrnehmung. Das anhaltende Interesse für die Kombination von Bild und Text erinnert an die Concept Art, die das Erscheinungsbild der Kunst zu Beginn der siebziger Jahre prägte. Das Kunstwerk existierte hier nicht mehr in der üblichen materiellen Form, sondern nur noch in der Umschreibung durch Texte, Diagramme und Fotos oder als Ideenprojektion. Kunst wurde in ihrer eigenen Funktion problematisiert, wobei der Künstler selbst aus dem Werk verschwand. Im Gegensatz zu diesem Prinzip der Auslöschung des Künstlers nimmt Calle, wie beschrieben, in ihren Arbeiten einen zentralen Platz ein und ist in ihrer Abwesenheit immer präsent. Calle beschäftigt sich nicht mit formalen Fragen wie etwa Darstellung, Stil, Objektivierung oder Intensität des Ausdrucks. Das Kunstwerk ist hier keine selbstgenügsame und autonome Einheit, sondern bezieht seine Kraft aus dem unmittelbaren und  wechselseitigen Diskurs mit dem Betrachter. Indem Calle ihre Vorgehensweise offenbart, fordert sie Interaktion und Kommunikation bewußt heraus. Sie präsentiert ihre Erfahrungen als eine Serie von Skizzen ohne eine festgelegte Reihenfolge. Ihre Arbeiten sind Fragmente, die es dem Betrachter ermöglichen, assoziative Verbindungen zwischen den einzelnen Geschichten zu knüpfen und Beziehungen zu eigenen Erfahrungen herzustellen. Die Künstlerin problematisiert unsere Methoden der Wahrnehmung und eigenen Identifikation, indem sie die Vielfältigkeit des sozialen Lebens darstellt und die damit verbundenen Probleme und Fragen zur Beantwortung an den Betrachter und somit wieder ins Leben zurückgibt. Seit Beginn der 80er Jahre setzt sie ihre Strategien unbeirrt von jeweils gängigen künstlerischen Codes ein. Die Qualität ihrer Arbeiten besteht in der direkten Art der formalen Ansätze, in ihren erzählerischen Fähigkeiten, in der begrifflichen Bereicherung, die das Werk im Laufe seiner Entstehung erfährt und in der Kraft der Projekte, den Betrachter mit seinen Möglichkeiten und Erfahrungen mit einzubeziehen. Die Arbeiten sind kraftvoll und überzeugend gerade aufgrund der Ungewißheit, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Ungewißheit ist fast immer störend; sie ist ineffizient, unproduktiv und oft sogar gefährlich. Der hybride Charakter dieser Werke widersetzt sich jeder Klassifizierung, wie das Leben selbst. Für Sophie Calle muß das so sein.