TOI TOI TOI
English Press Text

In Zusammenarbeit mit der Auckland Art Gallery.
Drei Künstlergenerationen aus Neuseeland:
Colin McCahon, Rosalie Gascoigne, Len Lye, Billy Apple, Bill Culbert, Ralph Hotere, Merylyn Tweedie, Boyd Webb, Jacqueline Fraser, Ronnie van Hout, Lisa Reihana, Peter Robinson, Mike Stevenson, Yuk King Tan

Ausstellungseröffnung: 23. Januar.1999, 15:00 Uhr
Zur Eröfffnung sprechen: Chris Saines, Direktor der Aukland Art Gallery und Barbara Heinrich, Museum Fridericianum

Unter dem Titel TOI TOI TOI (Toi ist das Wort der Maori für Kunst) zeigt das Museum Fridericianum einen Überblick über die zeitgenössische Kunst Neuseelands der letzten 50 Jahre. Zum ersten Mal wird in Deutschland damit die neuseeländische Kunst in dieser Bandbreite vorgestellt.
Die Ausstellung beginnt chronologisch mit den Künstlern Colin McCahon, Rosalie Gascoigne und Len Lye.
Eine Auswahl von 25 Arbeiten dokumentiert das künstlerische Schaffen des Malers Colin McCahon (* 1919, † 1987). Der Bogen spannt sich von seinen aufregenden und in Europa weitgehend unbekannten frühen Landschaftsbildern und Bildern religiöser Thematik aus den 40er und 50er Jahren bis zu seinen Text- und Nummernbildern der 70er Jahre, die zu den ersten gehören dürften, ind die Text in Form von Statements und Sprechblasen eingearbeitet ist. Ohne die Kenntnis von McCahons Arbeiten muß die gesamte zeitgenössische Kunst Neuseelands unverständlich bleiben.
McCahon, der seine künstlerische Ausbildung an der King Edward Technical College Art School in Dunedin erhielt hatte zeitlebens eine innige Verbindung zur Landschaft seiner Heimat, die er schon als junger Mann in ausgedehnten Wanderungen erkundete. Lange Jahre verdiente er seinen Lebensunterhalt als Saisonarbeiter auf Obst- und Tabakplantagen und als Gärtner.
McCahons Verbindung zur Landschaft ist spiritueller Natur. Für ihn ist die Landschaft nicht bloß die Summe geologischer Formationen, sondern vielmehr drückt sich in ihr ein kreativer göttlicher Willen aus. Ein Wasserfall, Wolken oder Licht sind für den Künstler physikalische Manifestationen dieser göttlichen Kraft, deren Wesen er in seinen Bildern erforscht.
Seine frühen Landschaftsbilder sind noch weitgehend Porträts, die den spezifischen Charakter einer bestimmten Region darstellen und in ihrer Formensprache an Künstler wie Cézanne anknüpfen, mit dessen Kunst sich McCahon intensiv auseinandersetzte. Bald aber entwickelt McCahon einen eigenen Stil: seine Arbeiten werden zusehends abstrakter und der individuelle Charakter der Landschaften wird aufgegeben zugunsten von generalisierten Formen. Obwohl bestimmte Elemente wie Berge, Himmel, Wasser oder Wolken beibehalten werden, entsprechen diese Bilder eher imaginären als tatsächlich gesehenen Landschaften.  Six Days in Nelson and Canterbury (1950) zeigt in sechs Segmenten sechs ursprüngliche Landschaftsformen mit unterschiedlicher Lichtführung.  Zweifellos geht das Bild auf McCahons Wanderungen zurück. Es ist aber keine literarische Aufzeichnung einer solchen Reise, sondern vielmehr ein Dokument der Reflexionen des Künstler über die Natur des Göttlichen.  Die „sechs" Tage des Titels verweisen auf die sechs Tage der Schöpfungsgeschichte, die hier auf sehr persönliche Weise interpretiert wird.
Ab Anfang der 50er Jahre halten die Wörter Einzug in McCahons Bilder.  Bereits in zwei frühen Arbeiten von 1943 und 1948 hatte McCahon Schrift verwendet. Aber während hier der Text noch als Titel oder ergänzendes Statement gelesen werden kann, wird in Arbeiten wie I Am (1954) oder den Bildern der „Elias series" (1959) der Text selbst zum Bildinhalt.  McCahon verwendet die Wörter sowohl als formales Element innerhalb der Bildkomposition wie auch als inhaltliche Bedeutungsträger. Diese Balance zwischen „Lesbarkeit" und „Sichtbarkeit" der Worte eröffnet assoziative Bedeutungsebenen, die Verstand und Intuition kombinieren. Der Betrachter muß nicht nur zwischen den Zeilen lesen, sondern auch zwischen dem geschriebenem Text und dessen visueller Form. Für McCahon ist Kunst ein Mittel der Kommunikation und die Textbilder stellen eine Möglichkeit dar, sich noch direkter an das Publikum zu wenden. Anknüpfend an die Landschaftsbilder und an biblische Themen untersucht McCahon nun zunehmend die Bedingungen menschlichen Seins.
In diesem Kontext sind auch seine Nummernbilder zu sehen, die ab Mitte der 60er Jahre entstehen. Bereits in den frühen 40er Jahren hatte sich McCahon hinsichtlich des Bildaufbaus mit Proportionslehre wie etwa dem goldenen Schnitt beschäftigt. In der Serie der „Numerals" wird nun mit den Zahlen selbst eine harmonische Ordnung hergestellt. Unterschiedlich große römische und arabische Zahlen, in späteren Arbeiten zum Teil auch ausgeschrieben, werden von McCahon in mehrteiligen Serien angeordnet, wobei eine Zahl zur nächsten führt. Auf diese Art entsteht ein harmonischer visueller und  numerischer Rhythmus, der beim Betrachten der bis zu 9 Meter langen Serien, analog eines Kreuzweges (eine frühe Arbeit zum Thema heißt The Fourteen Stations of the Cross), wieder aufgenommen wird. Im übertragenen Sinne lassen sich die „Numerals" als Lebensläufe lesen, in denen die Zahlen bestimmte Stationen markieren. So wie die Zahlen unterschiedlich groß sind, sind Ereignisse unterschiedlich bedeutsam. Die Art, in der die Abfolge der Zahlen angelegt ist, könnte auf einen vorgegebenen Weg hindeuten. Aber die Trennung der Zahlen durch vertikale und horizontale Linien läßt auch den Richtungswechsel zu.
In den Landschaftsbildern der 70er Jahre fließen alle Elemente von McCahons Malerei ineinander. Beach Walk, series C (1973) etwa beinhaltet sowohl die abstrahierten Naturformen als auch Wörter und Zahlen. Diese Arbeit gehört zu einer Gruppe von Bildern, die unter dem Titel „Necessary Protection" zusammengefaßt werden. Angesichts der Zerstörung von Lebensgrundlagen durch Umweltverschmutzung Raubbau und Atomtests plädiert McCahon mit diesen Arbeiten für die Bewahrung von und den Respekt vor der Natur. Sie sind nicht zuletzt auch ein Appell für Akzeptanz der Maori-Kultur, die zutiefst mit McCahons Heimat verwurzelt ist.
McCahon hat der neuseeländischen Malerei entscheidende Impulse gegeben und sie wie kein anderer Künstler seines Landes weiterentwickelt. Weit ab von Tendenzen der europäisch/amerikanischen Westkunst entwickelte er seine Arbeiten.
Rosalie Gascoigne (* 1917) zählt zu den spektakulärsten künstlerischen Erscheinungen des Subkontinents. In Neuseeland geboren, zieht sie 1943 mit ihrem Mann in eine abgelegene kleine Gemeinde in der Nähe von Canberra, Australien. Getrennt von Familie und Freunden, findet sie in der Erkundung der Natur Ablenkung von ihrer Einsamkeit. Sie beschäftigt sich mit Ikebana und fertigt ab 1964 erste Eisenskulpturen aus verrosteten Teilen von Landmaschinen, deren figurative Anmutung im scharfen Kontrast zur abstrakten Linearität des Ikebana stehen. Ab 1971 experimentiert Gascoigne mit großen Konstruktionen aus Knochen von Kühen und Schafen, die sie auf ihren Wanderungen findet. Erst 1974, im Alter von 57 Jahren, hat die Künstlerin ihre erste Ausstellung.  Rosalie Gascoigne arbeitet ausschließlich mit gefundenen Materialien.
„Ich benutze nichts, was nicht dem Wetter ausgesetzt war", sagt sie.  Gascoignes zentrales Thema ist die Natur, aber paradoxerweise sind ihre Arbeitsmaterialien oft un-natürlich: verrostetes Eisen, Wellblech, Teile von reflektierenden Strassenschildern oder alte Fruchtsaftkartons. Diese Abfälle der Industriegesellschaft, geschaffen um die Natur in Schach zu halten, werden von Gascoigne recycelt. Ihre Arbeiten sind Meditationen über Entropie und die Tendenz der Natur zur Unordnung. Ihre Objekte verweisen auf eine Schönheit, die jenseits der Funktionalität zu finden ist. Sie symbolisieren die Natur nicht, sondern re-präsentieren sie vielmehr. Betrachtet man ihre Collagen aus zersägten und neu zusammengesetzten Strassenschildern wie etwa Highway Code (1985), so versucht man unwillkürlich, aus den vorhandenen Buchstabenfragmenten ein sinnvolles Wort zu lesen. Da dieser Versuch scheitern muß, kann man im nächsten Schritt diese Buchstaben als abstrakte Muster lesen, die Erinnerungen und Assoziationen jenseits konkreter Bedeutungen zulassen.
Das Werk von Len Lye (* 1901, † 1980) zeichnet sich durch eine große Bandbreite unterschiedlichster Medien aus. Als einer der ersten Künstler überhaupt hat Lye bereits in den frühen 20er Jahren kinetische Skulpturen gebaut und drehte 1929 seinen ersten experimentellen Film.  Seine Vorstellungen von einer „Kunst der Bewegung" führten in den 30er Jahren zum „direkten Film", d. h. der Herstellung von Filmen ohne Kamera. Dabei bediente Lye sich unterschiedlicher Methoden, wie z.B. dem direkten Bemalen von Zelluloid oder der Ritztechnik auf schwarzem Film.  Seine avantgardistischen filmischen Arbeiten reichen bis weit in die 70er Jahre, wobei Lye auch mit Kamera-Animationen, Farbprozessen und Schnitt-Techniken experimentierte. Darüberhinaus hat sich Lye auch einen Namen als Maler und Schriftsteller gemacht, wobei auch in diesen Bereichen sein Interesse stets der Komposition von Bewegung galt. In der Ausstellung werden Filme und Fotogramme des Künstlers zu sehen sein.
Die mittlere Künstlergeneration wird in TOI TOI TOI vertreten durch Billy Apple (* 1935), Bill Culbert (* 1935), Ralph Hotere (* 1931), Merylyn Tweedie (* 1953) und Boyd Webb (*  1947).
Neben älteren Werken, die einen Überblick über die Arbeit dieser Künstler geben, zeigt die Ausstellung neue Arbeiten, die eigens für Kassel entstehen. So arbeiten etwa der Maler Ralph Hotere und der „Lichtkünstler" Bill Culbert an einem gemeinsamen Projekt.
Ralph Hotere, im Maori-Stamm der Aupouri geboren und aufgewachsen, studierte von 1961-65 in London an der Central School of Art und kehrte dann nach Neuseeland zurück. Hoteres Bilder, auf unterschiedlichsten Materialien gemalt (Papier, Leinwand, Holz, Wellblech) sind Meditationen zum Thema Landschaft, die sowohl Gesehenes als auch Gefühltes beinhalten. Ähnlich wie bei McCahon sind auch in den Arbeiten von Hotere Wörter und Texte von zentraler Bedeutung. Sie stammen aus unterschiedlichsten Quellen und bilden ein formales und inhaltliches Element zugleich. Anders als McCahon geht es Hotere aber nicht um ein spirituelles Erforschen des Seins in der Welt, sondern immer um politische, soziale und persönliche Teilhabe. Mit Ralph Hotere gibt zum ersten Mal ein Maori wichtige und eigenständige Beiträge zur Entwicklung der Kunst in Neuseeland, die entscheidend zur völligen Integration der Maori innerhalb der jüngsten Künstlergeneration führten.
Bill Culbert arbeitet mit Glühbirnen und Neonröhren, die er in raumgreifenden Installationen arrangiert oder mit anderen Materialien kombiniert. In immer neuen Variationen werden die Wirkungen von Licht erforscht: Licht und Schatten, Licht und Farbe, Licht und Raum.
Der Einsatz unterschiedlichster Medien setzt sich in der jüngeren Generation fort, die mit Jacqueline Fraser (* 1956), Lisa Reihana (* 1964), Peter Robinson (* 1965), Mike Stevenson (* 1964), YUK King Tan und Ronnie van Hout (* 1962) zu Wort kommt.
Jacqueline Fraser etwa arbeitet mit Schnüren und Draht, die sie zu filigranen Gebilden verflicht, um Räume zu gestalten und einzurahmen.  Das Weben und Flechten nimmt Bezug auf traditionelle Techniken und dient in Frasers Arbeiten der Erforschung des Verhältnisses von Körper und kulturell definiertem Raum. Häufig zieht die Künstlerin Parallelen zwischen Maori und europäischer Tradition und hat für TOI TOI TOI eine neue Arbeit konzipiert, die sich mit einem Märchen der Brüder Grimm beschäftigt.
Auch bei Peter Robinson steht die Analyse von kulturellen Interaktionen im Mittelpunkt seiner Arbeiten. Anhand kommerzieller Slogans demonstriert er ironisch die Aufrechterhaltung und Verbreitung kultureller Stereotype innerhalb der internationalen Wirtschaftssysteme und verweist auf unterschiedliche Systeme sozialer Ordnung. Seine Arbeiten bewegen sich dabei formal zwischen Malerei, Bildhauerei und Schilderkunst.
Lisa Reihanas Videoinstallationen, Mike Stevensons „Player Piano", Ronnie van Houts Plastikmodelle oder Yuk King Tans Feuerwerkszeichnungen sind weitere Beispiele für die Nutzung vielfältiger Medien, die ein Interesse der jungen Künstler an Phänomenen der Massenkultur und den Zwischenräumen verschiedener Arten des kulturellen Ausdrucks wiederspiegeln.

Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit der Auckland Art Gallery in Neuseeland und wird dort nach Kassel gezeigt.