DIE WAHREN GESCHICHTEN 
DER SOPHIE CALLE

Museum Fridericianum:
8. April 2000 bis 21. Mai 2000

Haus der Kunst München
26. August - 12. November 2000




Katalogtext Barbara Heinrich

Pressetext:
Als Sophie Calle 1979 nach langjähriger Abwesenheit nach Paris zurückkehrt, ist ihr die Stadt fremd geworden. Um sich wieder mit ihr vertraut zu machen und ihrem täglichen Leben einen Sinn zu geben, beginnt sie, mit Kamera und Notizblock ausgestattet, zufällig ausgewählten Passanten ohne deren Wissen zu folgen.
Dieses eher zufällige Vorgehen weicht bald sorgfältig durchdachten Inszenierungen, die die Künstlerin selbst als Rituale bezeichnet. Calle kombiniert dabei detektivische Verfolgung mit einer Art Verhaltensforschung und journalistischer Recherche. Sie beobachtet, sammelt Daten, Hinweise, Spuren und Erinnerungen und gibt die Ergebnisse ihrer Beobachtungen in Form tagebuchartiger Texte wieder, die von fotografischen Beweisen unterstützt werden. Ihre Arbeiten erzählen Geschichten und dokumentieren die verschiedenen Ebenen, die uns zu einer bestimmten Wahrnehmung der Welt führen.

So entsteht beispielsweise 1980 die Arbeit Suite Vénitienne, ihr wohl bekanntester Versuch, heimlich in das Leben eines Fremden einzudringen und es auszuspionieren. Sophie Calle folgt einem Mann, der ihr in Paris flüchtig vorgestellt wurde, nach Venedig. Wie ein Detektiv aus einem Film der 50er Jahre, verkleidet mit Regenmantel, blonder Perücke und Sonnenbrille, macht sie das Hotel des Mannes ausfindig, lauert ihm auf, verfolgt ihn durch die Stadt, besucht und befragt Personen, mit denen er Kontakt hatte. Sie fotografiert ihn immer wieder hinter seinem Rücken, macht auch Aufnahmen von Straßen und Plätzen, die er durchquerte und notiert die täglichen Ereignisse. Bei ihren Annäherungsversuchen wird sie immer sorgloser, und eines Tages erkennt er sie und verbietet ihr jedes weitere Fotografieren. Doch obwohl das Spiel vorbei ist, gibt Calle nicht auf. Ihr Versuch, sich in seinem verlassenen Hotelzimmer einzumieten, bleibt ohne Erfolg. Zum Schluß folgt sie dem Mann zurück nach Paris und macht ein letztes Foto als er den Bahnhof verläßt.

1983 hält sich Sophie Calle ein weiteres Mal in Vendig auf und arbeitet für drei Wochen als Zimmermädchen in einem venezianischen Hotel. Sie nutzt die Abwesenheit der Gäste, um die Zimmer zu durchsuchen - der Alptraum eines jeden Hotelgastes. Sie schnüffelt herum, öffnet Koffer, liest Tagebücher und Post. Sie fotografiert den Inhalt von Schränken, die zerwühlten Betten und die Badezimmer, in denen gerade gewaschene Unterwäsche über der Wanne tropft. Nichts ist vor ihr sicher, und so entsteht ein Panorama aus Bruchstücken fremder Leben, das von alltäglichen menschlichen Gewohnheiten erzählt. Mit erschreckender Deutlichkeit thematisiert L´Hotel den Einbruch des Öffentlichen ins Private. Die dokumentarischen Berichte über ihre Schnüffeleien werden durch teilweise fiktive Passagen ergänzt, in denen Calle versucht, anhand der vorgefundenen Dinge einen Teil der Lebensgeschichte des jeweiligen Besitzers zu rekonstruieren. Das Scheitern aller Rekonstruktionsversuche ist mitdokumentiert, denn es entsteht kein Bild einer konkreten Person. Der Betrachter wird als Komplize in das Vorgehen der Künstlerin einbezogen und dabei gleichzeitig mit seiner eigenen voyeuristischen Lust konfrontiert. Neugierig wird im Geiste mitgeschnüffelt, begierig werden die Texte gelesen.

Bei ihren Recherchen zu Privatheit, Erinnerung und Wahrnehmung macht Sophie Calle auch vor dem eigenen Leben nicht halt. So findet sich eine Umkehrung der Rollen beispielsweise in der 1981 entstandenen Arbeit Der Schatten, die Calle inszeniert, üum dum den fotografischen Beweis [ihrer] Existenz zu erbringenã, wie sie selbst sagt. Die Voyeurin wird zur Beobachteten. Calle beauftragt ihre Mutter, einen Privatdetektiv zu engagieren, der sie einen Tag lang beschatten soll. Dem objektiven Bericht und den Fotos des Detektivs stellt die Künstlerin ihre eigenen Notizen gegenüber, die sie während des Tages gemacht hat. Indem sie sich selbst den Überwachungssystemen aussetzt, die sie untersucht, offenbart sie deren komplexe Instanzen: der Beobachter, in diesem Fall der Detektiv, wird selbst beim Beobachten beobachtet, und darüber hinaus kommt der Betrachter ihrer Kunst als zusätzliche Instanz ins Spiel.

Sophie Calle nennt sich selbst äerz&erzählende Künstlerinã und betont, daß ihr die Inhalte der Geschichten, die Recherche, die Erzählform und das Endergebnis gleich wichtig sind. Neugier, das Sich-einlassen auf Situationen, bzw. deren Inszenierung als Ritual und nicht so sehr das künstlerische Schaffen selbst bilden dabei ihre Motivation. Calle sagt in einem Interview:
Rituale sind eine Möglichkeit, sich dem Leben zu stellen. Es geht mir nicht darum, besser zu verstehen, was Leben ist. Ich entdecke darin einfach Ordnung und Unordnung (...) Die Rituale vermitteln mir vielleicht eine gewisse Ordnung (...) Ich könnte nicht einmal sagen, daß diese Ordnung mir selbst etwas hilft - sie bereichert allenfalls meine schöpferische Erfahrung.

Zu den Strategien der Künstlerin gehören Beobachtung, Befragung, Verführung, Rollentausch, das Changieren zwischen Nähe und Distanz und das Verknüpfen der eigenen mit fremden Biografien. Ihre Arbeiten kreisen thematisch um das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft und die Annäherung an den anderen, wobei die Fragen durch unterschiedliche Inszenierungen immer wieder neu gestellt werden. Jede, selbst die alltäglichste Einzelheit ist dabei von Bedeutung. Text und Bild sind in den Arbeiten gleichwertig. Die Verwendung der Schwarz-Weiß-Fotografie, die die Künstlerin bis auf wenige Ausnahmen beibehält, unterstützt den quasi-dokumentarischen Charakter. Die Texte sind geradlinig, zweckmäßig, schelmisch und manipulativ und beinhalten Spuren eines zugleich spöttischen und aufrichtigen Romantizismus. Das Geheimnisvolle an Sophie Calle´s Arbeiten entsteht aus dem  Kontrast zwischen einer pragmatisch, kühlen Darstellungsweise und persönlichen, individuell-subjektiven Inhalten. Die Künstlerin präsentiert eine Vielzahl von Beziehungen, die den Betrachter mit einschließen. Durch die Konfrontation mit der vorausgegangenen Geschichte eröffnet sich die Möglichkeit assoziativer Verbindungen zur eigenen Biografie und damit zu eigenen Fragestellungen, und man entdeckt mit einer Mischung aus Horror, Faszination und Sympathie, daß man selbst einer dieser Fremden sein könnte. Ungeachtet der visuellen Schlichtheit und der durchdachten, zurückhaltenden Intimität, lassen diese Arbeiten viele unangenehme Fragen aufkommen, die von der Künstlerin nicht beantwortet werden. Der Betrachter ist, wenn er Antworten finden will, auf die eigene Erfahrung angewiesen.

Die Fotografie spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Sophie Calle stellt die traditionellen Wahrheitskriterien der Fotografie in Frage, indem sie die Gegensätze von Dokument und Erfindung, Wirklichkeit und Fiktion, Realität und Inszenierung durcheinanderbringt.
Das Foto galt und gilt seit seinen Anfängen in der Portrait- und Visitenkartenfotografie als verläßlicher Garant für die Wahrhaftigkeit des Dargestellten und eignet sich damit besser zum Festhalten von Erinnerungen als die Malerei. Fotos sind Beweisstücke einer bestimmten Biografie oder Geschichte, man denke nur an die eigenen Fotoalben. Die Verwendung von Fotografien zur Bestimmung der Identität einzelner läßt keinen Zweifel aufkommen, daß die Fotografie eine sichere Möglichkeit zur Bestimmung von Identität schlechthin darstellt und damit ein geeignetes Mittel sozialer Kontrolle ist. Ein Foto zu machen ist gleichbedeutend mit Besitzergreifung, deren verschiedene Formen von Susan Sontag wie folgt beschrieben werden:
Die einfachste Form dieser Besitzergreifung besteht darin, daß wir mit der Fotografie das Surrogat einer geliebten Person oder eines geschätzten Gegenstandes besitzen - ein Umstand, durch den die Fotografie etwas von einem einmaligen Objekt erhält. Daneben entsteht durch die Fotografie eine Konsumenten-Beziehung zu Ereignissen, die Teil unserer Erfahrungen sind, aber auch zu solchen, die es nicht sind - ein Unterschied zwischen Erfahrungsweisen, die ein solches gewohnheitsprägendes Konsumieren verunklärt. Eine dritte Form der Besitzergreifung besteht darin, daß wir uns mit Hilfe von Bildproduktions-und Bildvervielfältigungsmaschinen etwas (statt als Erfahrung) als Information aneignen können.
Diese Form der Aneignung von Welt findet allerdings nur fragmentarisch statt, da Fotos lediglich in Ausschnitten abbilden. Darüber hinaus sind Beschreibungen, ob visuell oder sprachlich, keine objektiven Prozesse, sondern Interpretationen nach bestimmten Maßstäben: man muß immer fragen, wer beschreibt und warum er dies tut. Der Fotograf sucht sein Motiv unter bestimmten Gesichtspunkten und Absichten aus, die sich im Bild widerspiegeln. Dies gilt für alle Fotografie, sei es Kunst-, Dokumentar- oder Amateurfotografie. Mit jedem Foto, das wir sehen, wird uns eine subjektive Ansicht vermittelt. Das Fotografieren ist zum gesellschaftlichen Ritual geworden. Jeder besitzt einen Fotoapparat durch den er die Welt wahrnimmt. Erfahrungen werden nicht mehr selbst gemacht, sondern in Abbilder, in eine bestimmte Sehweise verwandelt. Auf der Suche nach dem besten Motiv und der Dokumentation von Ereignissen, bleibt keine Zeit, an diesen Ereignissen teilzunehmen. Und obwohl ein Foto die Teilnahme an etwas Geschehenem bezeugen soll, zeigt es tatsächlich nur das Moment der Distanz.
Die Fotos werden zum Substitut für Erfahrungen und damit auch für Erinnerungen. Die Realität ist das Andere, dem wir mit Hilfe der Fotografie glauben, auf die Spur kommen zu können. Unsere Wahrnehmung wird durch Bilder codiert, die die Realität nicht mehr in ihren Funktionen wiedergeben, sondern lediglich als Abbilder. Erfahrung und Erinnerung sind entfremdet. Sie sind austauschbar, nicht an bestimmte Subjekte gebunden und somit übertragbar. Diese Entfremdung deutlich zu machen, ist zentraler Bestandteil der Arbeiten von Sophie Calle, wobei in ihren Ritualen so etwas wie Hoffnung auf Überwindung dieser Entfremdung und Wiederherstellung von Identität und Intimität anklingt.

Sophie Calle´s Werke entstehen nicht im Atelier, sondern als eine Art Feldforschung auf der Straße. Ihre Arbeiten sind sowohl Aussagen über das Wesen der Menschen, als auch über das der Kunst. Die Grenzen werden spielerisch verschoben und unablässig in Frage gestellt. Ihre Kunst ist zugleich referentiell und abstrakt: sie bezieht sich auf konkrete Ereignisse und Erfahrungen und weist doch durch Verallgemeinerung über sie hinaus. Ihre Ausgangspunkte sind die Situation und das Experiment. Variation und Bewegung, die Betrachtung immer gleicher Fragestellungen aus verschiedenen Blickwinkeln machen die Vielschichtigkeit ihrer Arbeiten aus. Kleinste Veränderungen der Ausgangsposition führen dabei zu immer neuen Resultaten. Sophie Calle bewegt sich zwischen Realität und Fiktion und produziert künstlerische Effekte wie z.B. die Verwirrung der Wahrnehmung oder den Bedeutungsschwindel mit ausschließlich biografischem Material. Sie ist keine Fotografin im herkömmlichen Sinne der Kunstfotografie, denn ihre Bilder stellen nichts dar. Realistisch und figurativ, sind sie doch nur neutral beschreibende Dokumente, die ohne die begleitenden Texte sinnlos wären. Calle ist aber auch keine Schriftstellerin. Ihre klaren und pragmatischen Texte sind rein informativer Natur und beziehen sich wiederum auf die visuellen Komponenten. Obwohl die Arbeiten wie Dokumentationen wirken, mit denen das Leben von Menschen rekonstruiert werden soll, kann man nicht von einer soziologischen Kunst sprechen. Diese interessiert sich für kollektive Phänomene und tendiert zu Resultaten und Thesen. Bei Calle wird aber gerade das Singuläre und damit Individuelle betont, das sich keinen Gesetzmäßigkeiten unterordnen läßt. Jeder ihrer angestrebten Rekonstruktionsversuche scheitert und dokumentiert in diesem Scheitern gerade die Subjektivität menschlicher Wahrnehmung.

Indem Sophie Calle ihre Vorgehensweise offenbart, fordert sie Interaktion und Kommunikation bewußt heraus. Sie präsentiert ihre Erfahrungen als eine Serie von Skizzen ohne eine festgelegte Reihenfolge. Ihre Arbeiten sind Fragmente, die es dem Betrachter ermöglichen, assoziative Verbindungen zwischen den einzelnen Geschichten zu knüpfen und Beziehungen zu eigenen Erfahrungen herzustellen. Die Künstlerin problematisiert unsere Methoden der Wahrnehmung und eigenen Identifikation, indem sie die Vielfältigkeit des sozialen Lebens darstellt und die damit verbundenen Probleme und Fragen zur Beantwortung an den Betrachter und somit wieder ins Leben zurückgibt.

Barbara Heinrich