Echolot
oder neun Fragen an die Peripherie

In der Ausstellung ”Echolot” werden zum ersten Mal neun Künstlerinnen vereint, die außerhalb des westlichen Kulturkreises geboren wurden. Sie beziehen Positionen, die im Kontext ihrer Herkunft als radikal bezeichnet werden können. 

Shirin Neshat und Fariba Hajamadi aus dem Iran, Mona Hatoum aus dem Libanon, Ghada Amer aus Ägypten, Ayse Erkmen und Gülsün Karamustafa aus der Türkei, Soo-Ja Kim aus Korea, Qin Yufen aus China und Tracey Moffatt aus Australien. 

Echolot
22. März bis 21. Juni 1998 

Öffnungszeiten: 
Mittwoch bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr 
Donnerstag von 10 bis 20 Uhr* 
Montag und Dienstag geschlossen 
geöffnet an allen Feiertagen 

Eintritt: DM 8,-/ ermäßigt DM 5,- 
*Freier Eintritt Donnerstag zwischen 18 und 20 Uhr 
Dauerkarte DM 25,-/ermäßigt DM 15,- 
Führungen an allen Sonn- und Feiertagen um 12 Uhr oder nach Anmeldung. 
Tel.: +49 561-7 07 27 20 
Treffpunkt im Foyer Museum Fridericianum. 

Zur Ausstellung erscheinen neun Kataloge und eine Ausstellungsdokumentation mit neuen Texten von Kim Airyung, Michael Archer, René Block, Candice Breitz, Dan Cameron, Anne Marie Freybourg, Vasif Kortun, Angelika Stepken, Gregory Volk und Octavio Zaya. 
Ca. 240 Seiten, davon 160 in Farbe. Alle Kataloge im Schuber DM 39,- 

Tracey Moffatt
*1960 in Brisbane, Australien 
Lebt in Sydney und New York 

Tracey Moffatt zeigt in ihren großformatigen Fotosequenzen und Filmen, deren zentrale Themen "Gewalt-Sex-Glamour" sind, keine Berührungsängste gegenüber Kitsch und Klischees. So erzählt sie in der 1989 entstandenen Fotoserie "Something More" von dem Schicksal einer jungen Frau im Australischen Outback, deren Sehnsucht nach einem besseren Leben tragisch endet. Tracey Moffatt lädt ihre inszenierten Fotografien emotional stark auf, erinnern sie doch an zweitklassige Melodramen. Sie selbst spielt meist die Hauptrolle in diesen "Herz-Schmerz-Geschichten". Als Protagonistin beherrscht sie die gesamte Palette weiblicher Rollenstereotypen, vom biederen Teenager bis zur erotischen Muse. Ihr Repertoire schöpft sie aus dem Fundus von Filmen, den amerikanischen TV-Soap Operas, oder aus der Werbung, gehört sie doch zu jener Generation von Künstlerinnen, die mit dem Fernsehen aufgewachsen ist. 
Tracey Moffatt empfand ihre Kindheit und Jugend, die sie als Aborigine bei weißen Pflegeeltern in einem Arbeiter-Vorort in Brisbane verbrachte, sehr bedrückend. Die persönlichen Erlebnisse aus dieser Zeit spiegeln sich auch in der Serie "Scarred for Life" (1994) wider. Im fotojournalistischen Stil des LIFE-Magazins wird hier das "normale (tägliche) Drama", wie es sich in Familien abspielt, nachgestellt. Die knappen Kommentare unterstreichen die Ambivalenz, die diesen Fotos zugrundeliegt. Hier offenbaren sich Mißbrauch, Vernachlässigung, Abhängigkeit, Haß und Verzweiflung. In der Inszenierung verdichten sich Kinderschicksal und Doppelmoral bis zur absoluten Unerträglichkeit für den Betrachter. 
Die neue Fotoserie "Up in the Sky" (1997) wird in dieser Ausstellung parallel zu ihrer Erstpräsentation in der Dia Art Foundation, New York, zum ersten Mal in einer europäischen Institution gezeigt. 
B.G. 

Ghada Amer
* 1963 in Kairo, Ägypten 
Lebt  in Paris und New York 

Ghada Amer bearbeitet die Leinwand nicht mit Pinsel und Farbe, sondern mit Nadel und Faden. Die ersten Arbeiten vom Beginn der 90er Jahre haben Schnittmuster zur Vorlage, wie man sie in Frauenzeitschriften findet. 
Was die Künstlerin an diesen Mustern interessiert, ist das Stereotyp, das Modell, dem es zu folgen gilt, analog den gesellschaftlichen und geschlechtsspezifischen "Modellen", mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind. 
Während Amer in ihren frühen Werken die Schnittmuster selbst auf die Leinwand überträgt, verbindet sie in späteren Arbeiten Technik und Darstellung, indem sie eine "typisch weibliche" Tätigkeit wie das Handarbeiten nutzt, um weibliche Rollenzuweisungen zu thematisieren. 
Arbeiten wie "Cinq femmes au travail" (1991) zeigen Frauen bei der Hausarbeit. Abbildungen aus Zeitschriften oder der Werbung werden mit einer Art Emulsion auf die Leinwand übertragen und die Konturen Stich für Stich nachgestickt. Ab 1992/93 taucht die Frau als erotisches Objekt in Amers Bildern auf, wobei ihre Vorlagen jetzt aus pornografischen Männermagazinen stammen. Neu ist hier, daß die Figuren mehrfach auf der Leinwand wiederholt und komponiert werden. Sie verschwinden hinter lang herabhängenden Fäden und scheinen sich dem Blick des Betrachters zu entziehen. Dieser Rückzug des Weiblichen vor dem stereotypen Blick birgt die Chance einer anderen Art von Identitätsfindung. Sticken wird bei Amer zur Metapher für einen langsamen, geduldigen, Schritt für Schritt vor sich gehenden Prozeß der Neudefinition dessen, was weibliche Identität sein kann. Denn diese ist für Amer weder eine angeborene oder gesellschaftliche Tatsache, noch ein psychisches oder sexuelles Faktum, sondern vielmehr eine intime Findung des Selbst, die an einem seidenen Faden hängt. 
B.H. 

Ayse Erkmen
*1949 in Istanbul, Türkei 
Lebt in Istanbul und Berlin 

Nicht die fertige Arbeit, sondern der Gedanke und die künstlerische Umsetzung sind bei Ayse Erkmen von Bedeutung, womit sie ganz an die Tradition der Konzeptkunst anknüpft. Sie läßt die Dinge und Orte selbst sprechen und greift nur geringfügig in vorgefundene (Raum-)Situationen ein. Dem Zufall und dem scheinbar Nebensächlichen wird in ihren Installationen viel Platz gegeben. 
Es sind sehr leise und zurückhaltende Inszenierungen, die oft erst nach genauem Hinschauen als solche erkannt werden. Eine wesentliche Strategie von Ayse Erkmen ist dabei die Ambivalenz, die ihrer künstlerischen Idee zugrundeliegt: so sind Mißverständnisse einkalkuliert. 
Sie verdichtet das komplexe Geflecht von Situationen, Orten, Dingen und Assoziationen zu einer Momentaufnahme, wodurch sich viele verschiedene Bedeutungsebenen erschließen lassen. 1993 kam sie als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD nach Berlin und lebt seitdem in Istanbul und Berlin. Ein durchgängiges Moment ist das Motiv der Grenzerfahrung - ein Erlebnis, das Ayse Erkmen als zeitgenössischer türkischer Künstlerin, die zwischen beiden Großstädten pendelt, sehr vertraut ist. Das Thema der Fremdheit zeigt sich beispielsweise in der Fassadengestaltung eines Hauses in Berlin Kreuzberg, eine ihrer wenigen permanenten Installationen. 
Charakteristisch für Ayse Erkmens Kunst sind ihre stilistisch-formale Vielfältigkeit und Exklusivität, denn ihre Arbeiten entstehen nur für eine begrenzte Zeit für einen bestimmten Ort. Diese Beschränkung hat natürlich zur Folge, daß ihre Werke nicht wie Bilder oder Objekte gesammelt werden können, und von daher weder in privaten noch öffentlichen Sammlungen noch im Kunsthandel anzutreffen sind. Im Sommersemester 1998 wird Ayse Erkmen als Gastdozentin an der Kasseler Hochschule der Künste lehren. 
B.G. 

Fariba Hajamadi
*1957 in Esfahan, Iran 
Lebt in New York 

Zwei mit Mustertapete ausgeschlagene Räume, auf deren Wänden Fotos plaziert sind. Im Raum nebenan eine Diaprojektion. Die Motive scheinen seltsam vertraut, als habe man sie schon einmal irgendwo gesehen. 
Fariba Hajamadi fotografiert in Museen, Kirchen und historischen Monumenten und macht Aufnahmen der dort versammelten und ausgestellten Objekte, der Vitrinen und der Architektur. 
Aus diesen Aufnahmen isoliert sie Details, die sie mischt und neu zusammensetzt. Die Montagen werden wieder fotografiert, auf eine mit Fotoemulsion behandelte Leinwand oder Holztafel projiziert und abschließend mit Pinsel und Farbe bearbeitet. So entsteht eine Art gemalte Foto-Montage, die die Künstlerin neuerdings auch mittels der Computer-Paintbox herstellt. 
Diese Arbeiten plaziert Hajamadi auf Tapeten, deren Muster die drei Themen Erotik, Jagd und Vergewaltigung umkreisen. Auch hier greift sie auf bereits vorhandenes Bildmaterial wie z.B. indische Miniaturen des 18. Jhd. oder Zeichnungen von Francisco de Goya und Käthe Kollwitz zurück. Die serielle Reihung des immer gleichen Motivs und die Plazierung der Tapeten auf Wände in engen Räumen führt zu einer besonders eindringlichen Wahrnehmung der angesprochenen Themen - der Betrachter kann sich nicht entziehen. 
Hajamadis Interesse richtet sich auf die Art und Weise, in der Geschichte entsteht und sich präsentiert; sie untersucht die Beziehungen und Wechselwirkungen von Sprache und visueller Information. Die Konstruktion ihrer Arbeiten betont dabei die Idee einer Ko-Existenz verschiedener Lesarten und die Unmöglichkeit einer einzig gültigen Interpretation. 
Die Künstlerin lädt uns ein zu einer Reise durch Raum und Zeit und die vielen Facetten unserer Erinnerung. Sie liefert uns Visionen, die eine Art Déjà-vu Erlebnis provozieren und doch pure Erfindung sind. 
B.H. 

Mona Hatoum
*1952 in Beirut, Libanon 
Lebt in London 

Die besondere Qualität von Mona Hatoums Arbeiten liegt in ihrer Offenheit, ihrem Assoziationsreichtum und großen emotionalen Aura. 
Beschäftigte sie sich in den 80er Jahren hauptsächlich mit Video und Performance, konzentriert sie sich seit 1989 auf Objekte, Fotos und Bodenarbeiten, in denen Momente von Gewalt, Leid und Gefangensein thematisiert werden. In einer Werkgruppe, die Anfang der 90er Jahre entstand, bildet sie Gegenstände des täglichen Lebens (Betten, Stühle, Schränke, Teppiche) nach, deren Material der Objektfunktion widerspricht. Aus ihrem herkömmlichen Kontext herausgelöst, erleben die Gegenstände eine Metamorphose ins Existentiell-Bedrohliche. 
International bekannt wurde Mona Hatoum durch ihre großen Raum-Installationen. 
Bevorzugte Materialien sind Eisen, Stahl und Draht. Ihre Formensprache ist auf vertikale und horizontale Elemente reduziert. 
Neben der Beschäftigung mit Material und Raum, Nähe und Distanz beherrscht der menschliche Körper das Werk Mona Hatoums. 
Gibt sie in ihren Rauminstallationen lediglich Hinweise auf seine Existenz und spielt mit seiner Abwesenheit, so ist er doch in Arbeiten wie "Moutons" (1996), in der kleine Kugeln aus Menschenhaar geformt sind, unmittelbar präsent. 
Mona Hatoum erkundet in ihren Werken immer wieder ihre eigenen Grenzen und Lebensbedingungen. Schließlich wurde sie als Kind palästinensischer Eltern in einem Land geboren, in das sie nach Ausbruch des Bürgerkrieges nicht mehr zurückkehren wollte. In ihrer Kunst macht sie deutlich, daß Privates gleichzeitig Ausdruck von politischen und sozialen Prozessen sein kann. 
B.G. 

Gülsün Karamustafa
*1946 in Ankara, Türkei 
Lebt in Istanbul 

Die Gegenüberstellung von politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Fragestellungen ist bestimmendes Motiv in den Arbeiten von Gülsün Karamustafa. Ihr Interesse richtet sich dabei in erster Linie auf die komplexe Natur der Entstehung von Identitäten, wobei ihr künstlerisches Schaffen stark geprägt ist von der Stadt, in der sie lebt. 
Istanbul mit seiner 2500jährigen Geschichte ist eine Stadt, in der wie nirgends sonst islamische, christliche und jüdische Kultur aufeinandertrafen. Architektonische Zeugen der wechselseitigen Beeinflussung bzw. Konfrontation dieser Kulturen hat Karamustafa für ihre Installationen genutzt. So entstand etwa 1989 im Rahmen der Istanbul Biennale eine Arbeit in der Hagia Sophia und 1995 die Arbeit "Souvenir" im antiken Tempel von Ephesos. Die Begegnung von Orient und Okzident und damit verbunden die Frage nach der eigenen Identität und dem eigenen kulturellen Hintergrund nimmt Karamustafa auch in der Arbeit "Presentation of an early Representation" (1997) wieder auf. Ausgangspunkt ist ein Aquarell eines anonymen deutschen Malers des 16. Jhd., das die Künstlerin in einem Buch über das frühere Leben in Istanbul fand. 
Das Aquarell (dessen Original in einem Musterbuch in der Murhardtschen Bibliothek in Kassel zu sehen ist) zeigt einen Sklavenbasar, auf dem ottomanische Händler auf rüde Art europäische Frauen inspizieren. Die Darstellung des Klischees vom barbarischen Orientalen und der abendländische Blick auf diese Kultur werden von Karamustafa verknüpft mit ihren eigenen Fragen nach der heutigen Sichtweise der beiden Kulturen aufeinander. 
In einer neuen Arbeit, die jetzt für die Ausstellung "Echolot" entsteht, versammelt die Künstlerin Motive und Bilddarstellungen der islamischen, christlichen und jüdischen Religionen in einer Art Fries. Sie werden übereinandergelegt, verschmelzen zu einem Bild und bleiben doch an den Rändern jeweils für sich. Karamustafa arbeitet mit derartigen Darstellungen um zu zeigen, daß kulturelle Identität nicht zuletzt aufgrund der Art ihrer Repräsentation entsteht und geprägt wird. 
B.H. 

Kim Soo-Ja
*1957 in Taegu, Korea 
Lebt in Seoul 

Seit 1983 arbeitet Soo-Ja Kim mit Stoffresten und getragenen Kleidungsstücken. Sie suchte damals intensiv nach einer Möglichkeit, sich von den Zwängen der zweidimensionalen Leinwand zu befreien und "Oberfläche und Leben in Einklang zu bringen". Die Antwort fand die koreanische Künstlerin in der Tätigkeit des Nähens auf Textilien. Das Nähen ist für sie ein symbolischer Akt: eine Meditation, bei der sie sich dem Stoff emotional nähert. Soo-Ja Kim hat eine besonders intensive, einfühlsame Beziehung zu Stoffen aller Art, tragen sie doch Spuren der individuellen und kollektiven Geschichte des Lebens und des Menschseins, angefangen bei den Laken, in die ein neugeborenes Baby gehüllt wird, bis hin zur Totenkleidung. 
In ihren frühen Arbeiten, die aus den 80er Jahren stammen, nähte Soo-Ja Kim Stoffreste zu abstrakten Collagen zusammen und bearbeitete sie mit Acrylfarbe und Tinte. Um 1990 entstehen die ersten sogenannten "Deductive Objects". Dabei handelt es sich um mit Stoff umwickelte und vernetzte Gegenstände und Gitterstrukturen. Eine Erweiterung dieser Installationen sind die "Bottari", große mit Kleidungsstücken gefüllte Stoffballen. Bei einigen ihrer Inszenierungen forderte Soo-Ja Kim die Betrachter auf, in Aktion zu treten. So öffneten auf der Kwangju Biennale 1995 die Ausstellungsbesucher die Bündel, um die Stoffe und Kleidungsstücke in der Landschaft zu verteilen. Die textile Beschaffenheit des Stoffes läßt es zu, daß er geknotet, ausgebreitet, genäht, gefaltet und gepreßt werden kann. Diese Tätigkeit erinnert an alltägliche traditionelle Frauenarbeit: "Meine Kunst ist die Konzeptualisierung des alltäglichen Lebens, speziell von Frauenarbeit", beschreibt Soo-Ja Kim ihr künstlerisches Tun. 

Shirin Neshat
*1957 in Qazvin, Iran 
Lebt in New York 

Als Shirin Neshat 1990 nach zwölfjähriger Abwesenheit zum erstenmal in ihre Heimat zurückkehrte, war es für sie zutiefst schockierend, das Land nach der Revolution völlig verändert zu erleben. 
Die Erfahrung, daß in erster Linie das öffentliche und private Leben der Frauen von den religiösen und politischen Veränderungen betroffen ist, führt in ihren Arbeiten zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Heimat. Ihre Fragen gelten dabei in erster Linie der immensen Komplexität der Rolle von Frauen in islamischen Kulturen, aber auch den Klischeevorstellungen der westlichen Welt. Neshat arbeitet mit der Fotografie, um wie sie sagt, Bilder zu konstruieren, in denen sie jegliche Generalisierung zu vermeiden sucht und die Antworten dem Betrachter überläßt. 
1993 entsteht die Serie "Unveiling", die den Schleier in Beziehung zum weiblichen Körper und die Vorstellung von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit thematisiert. Auf den Körperteilen, die der Tschador freigibt, erscheinen Texte und Gedichte iranischer Schriftstellerinnen. 
Die Verbindung von Schleier, Körper und Text wird auch in der Arbeit "Women of Allah" (1994) wieder aufgenommen. Hier untersucht Neshat das Konzept des "Shahadat", des Märtyrertums, und zeigt muslimische Frauen, die Waffen auf den Betrachter richten. In eindringlicher Weise setzt sie die fanatische Gewalt in Beziehung zu Politik, Religion und Weiblichkeit. 
Die neueren Arbeiten von Neshat, beispielsweise die Vier-Kanal-Projektion "Shadow under the Web" (1997), konzentrieren sich auf die Frage nach den räumlichen und sexuellen Grenzen, die Frauen durch traditionelle Kodierungen auferlegt werden. 
Shirin Neshat nimmt sich in ihren Arbeiten selbst als Modell. Dabei geht es nie um sie selbst. Sie steht vielmehr stellvertretend für die vielen Rollen islamischer Frauen und für deren Zerrissenheit zwischen Tradition und Aufbegehren. 
B.H. 

Qin Yufen
*1954 in Shangdong, China 
Lebt in Berlin 

"Die Aneinanderreihung des Immergleichen konzentriert den Geist. Meine Installationen sind stark von der chinesischen Gartenbaukunst beeinflußt. (...) Die Formen folgen den Gesetzen der Harmonie, sie sind wie das Ein- und Ausatmen, Öffnen und Schließen. Meine Installationen sind wie die chinesischen Gärten auf den Ausgleich der Gegensätze bedacht. Es gibt Symmetrie und Unregelmäßigkeit, Dynamik und Stillstand", sagt Qin Yufen über ihre poetischen Rauminszenierungen. Die chinesische Künstlerin arbeitet mit einfachen sowohl "asiatischen" wie "westlichen" Gegenständen und Materialien. Verwendung finden beispielsweise Wäscheständer, Kabel, Bambusstöcke oder Fächer, die in großer Anzahl im Raum angeordnet sind. Häufig integriert Qin Yufen in ihren dreidimensionalen Raumbildern akustisches Material. Sie mischt und überlagert Kompositionen, die ebenfalls aus dem "asiatischen" und "westlichen" Kulturkreis stammen. 
Aus dem ursprünglichen Kontext herausgelöst, entwickeln die Gegenstände und Klänge ihre eigene Ästhetik und Poesie. "Ich möchte", so Qin Yufen,"daß die Menschen in der Betrachtung meiner Arbeit Gelassenheit wiederfinden, (...) welche in den europäischen Gesellschaften weitgehend verloren gegangen ist." 
Seit 1988 arbeitet Qin Yufen mit Installationen. Die Entwicklung dorthin verlief langsam. Qin Yufen verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Peking, wo sie Mitte der 60er Jahre die Kulturrevolution erlebte. Ende der 70er Jahre wurde sie wie viele ihrer Generation als Dreherin in eine Fabrik geschickt. In ihrer freien Zeit begann sie, künstlerisch zu arbeiten. Eine staatliche Kunstakademie hat Qin Yufen nie besucht. Sie entwickelte ihre Kunst autodidaktisch und schloß sich inoffiziellen Künstlergruppen an. Zwischen 1980 und 1985 nahm sie an verschiedenen Ausstellungen im Untergrund teil. 1986 kam sie auf Einladung des Heidelberger Kunstvereins mit ihrem Mann, dem Künstler Jinshi Zhu nach Deutschland. Beide erhielten 1988 ein Stipendium des Berliner Kunstprogramms des DAAD und leben seitdem in Berlin. 
B.G. 

 

Ladies First
Überlegungen zum Ausstellungsprogramm 1998-2001

Das Ausstellungsprogramm des Museum Fridericianum für die Jahre 1998 bis 2001 basiert auf der Überlegung, verschiedene thematische Bereiche zu kombinieren und daraus immer wieder neue Ausstellungsblöcke zu bilden. Mit Hilfe dieser Blöcke wird es möglich, das gesamte Haus samt Zwehrenturm auch zwischen den documenta-Ereignissen zu bespielen. Bildlich gesprochen wird eine Brücke errichtet vom Ufer des 20. Jahrhunderts, auf dem wir noch stehen, zu dem des 21. Jahrhunderts, das wir noch nicht kennen. Tiefen und Untiefen des Stromes werden durch das Echolot erforscht, damit die Pfeiler, die die Brücken stützen, auf festem Grund stehen. 

Ein Ausstellungsprogramm für ein Gebäude wie das Museum Fridericianum kann nicht ohne Bezug zu dem Geist des Ortes entwickelt werden, der durch die documenta genannten künstlerischen Manifestationen geprägt wurde. Gerade die documenta X des vergangenen Jahres hat viele Fragen aufgeworfen und stellte tradierte Strukturen der Westkunst und unserer Hochkultur als letzte documenta in diesem Jahrhundert konsequent in Frage. Diese Fragen werden weiterverfolgt, ohne daß modische Begriffe und Themen wie ”Globalisierung”, ”kulturelle Vernetzung”, ”Remapping the World”, ”Megastädte” oder ”Global Village” strapaziert werden. 

Wenn in den nächsten vier Jahren das Thema Peripherie im Mittelpunkt der Ausstellungen steht, dann in seiner klassischen Interpretation: erstens geografisch als Randzone des eurozentrischen Kulturverständnisses und zweitens soziologisch mit der Präsentation von Außenseitern innerhalb des westlichen Kulturbetriebes. Sechs Leitmotive begleiten diesen Brückenbau: 

Die Außenseiter
Unter dem Motto ”Erfinder, Erzähler, Entdecker” werden Künstler in Erinnerung gerufen, die die Entwicklung der Kunst beeinflußten, ohne jedoch auf den Bestseller-Listen aufzutauchen. Hier ist für 1998 an Künstler wie den Katalanen Joan Brossa gedacht, der Spanien im vergangenen Jahr auf der Biennale von Venedig vertrat, oder an Robert Watts, einen Wegbereiter der Pop-Art in New York, der sich früh aus dem kommerziellen Ausstellungsbetrieb zurückzog, um dann als Lehrer einflußreich zu sein. Im Mittelpunkt der kleinen Retrospektive stehen seine Chromobjekte von 1960 und die nur wenig später entstandenen Neonarbeiten. 
Einen vergleichbaren Weg ging der deutsche Künstler KP Brehmer, der sich ebenfalls früh auf seine Lehrtätigkeit konzentrierte. Brehmer wäre im September 60 Jahre alt geworden und wollte in der Ausstellung im Herbst diesen Jahres neue Arbeiten neben seinen älteren Werken präsentieren. 
Im Herbst wird auch ein Künstler gezeigt, der die Arbeiten von Brehmer sehr schätzt und im letzten Jahr den Arnold-Bode-Preis erhielt: Richard Hamilton. 

Musik im Fridericianum
Schon lange sind die klassischen Grenzen zwischen Bildender Kunst und Musik überschritten. Mit Klanginstallationen erweitern Künstler und Komponisten ihr Repertoire. Bild-/Ton-Umsetzungen ganz anderer Art finden in den Filmen des spanischen Komponisten Carles Santos oder den Video-Opern von Robert Ashley statt, die für 1998 eingeladen wurden. 

Ehemalige documenta-Macher als Gäste im Museum Fridericianum
Persönlichkeiten, die die documenta geprägt haben, werden für ein kleines Projekt, ein Seminar oder einen Vortrag nach Kassel eingeladen. Begonnen wird diese Reihe in diesem Jahr mit Knud W. Jensen, dem Gründer des legendären Louisiana Museum bei Kopenhagen. Jensen hat die Schirmherrschaft über eine Ausstellung mit jungen dänischen Künstlern übernommen, die ab 11. Juli 1998 zu sehen sein wird. Dänemark, das wie die anderen skandinavischen Länder viele Jahre in der Peripherie lag, überrascht mit einer jungen, vitalen Kunstszene. Für das Jahr 1999 hat Harald Szeemann, künstlerischer Leiter der d5, ein kleines Projekt zugesagt und bei chronologischem Vorgehen wäre im Jahr 2000 Rudi Fuchs an der Reihe. 

Das Museum Fridericianum öffnet sich dem Nachwuchs
Viele Akademien und Kunsthochschulen veranstalten Jahresausstellungen unter dem Titel ”Rundgang”. Hier werden wir auf Entdeckungsreise gehen und einige Künstler einladen, sich mit kleinen Beiträgen gegenüber den anderen Programmen zu behaupten und erste Erfahrungen im großen Ausstellungs-wesen zu sammeln. Den Anfang macht im Zusammenhang mit der dänischen Ausstellung die Gruppe 'SuperFlex' von der Königlichen Akademie in Kopenhagen. Andere Künstler/innen sind noch zu benennen. 

Das Thema
Einmal im Jahr soll ein Thema das Haus füllen. Für 1999 ist eine Ausstellung zum Begriff  ”Zeit” geplant. Unter dem Titel ”Chronos und Kairos” wird Zeit als reales Moment und als Phänomen untersucht. Im Jahr 2000 werden ”Wörter” zum Thema. Unter dem Arbeitstitel ”Wort/ Bild/ Text” wird der unmittelbare Eingang von Sprache ins Bild und die damit verbundene Reduzierung der Bildsprache erforscht. 

Das Museum Fridericianum als neues Zentrum der Peripherie
Im Jahre 2000 ist eine künstlerische Bestandsaufnahme unter einem Titel vorgesehen, der dem Kassel verbundenen Komponisten Gustav Mahler entliehen ist: ”Das Lied von der Erde”. 1999 wird die aktuelle Kunst Koreas zu Gast im Fridericianum sein. Schon vorher, 1998/99, verspricht die Präsentation der Kunstszene Neuseelands eine Sensation zu werden. 
Beginnen werden wir aber mit einer Ausstellung, die zum ersten Mal neun Künstlerinnen vereint, die außerhalb des westlichen Kulturkreises geboren wurden und neun Positionen beziehen, die im Kontext ihrer Herkunft als radikal bezeichnet werden können. Shirin Neshat und Fariba Hajamadi aus dem Iran, Mona Hatoum aus dem Libanon, Ghada Amer aus Ägypten, Ayse Erkmen und Gülsün Karamustafa aus der Türkei, Soo-Ja Kim aus Korea, Qin Yufen aus China und Tracey Moffatt aus Australien. ”Echolot oder 9 Fragen an die Peripherie” lautet der Titel dieser Ausstellung. Zu den Fragen ist es nicht gekommen. Aber neun Antworten, die in Erstaunen versetzen, dürfen erwartet werden. 
 
 
 
 

Kunstforum
"Man muß uns nur endlich beginnen lassen . . ."
Dirk Schwarze sprach mit René Block über sein Ausstellungsprogramm für die Kunsthalle Museum Fridericianum in Kassel

(veröffentlicht in: KUNSTFORUM International, Bd. 140, April-Juni 1998, hrsg. v. Dieter Bechtloff, Ruppichteroth) 

D.S.: Ihr Ausstellungsprogramm für das Museum Fridericianum haben Sie unter das Motto "Peripherie" gestellt. Hat das auch damit zu tun, daß Kassel an der Peripherie des Kunstbetriebes liegt? 
RB.: Nein 

D.S.: Und was hat Sie in die Randzone des Kunstbetriebes gelockt? 
RB.: Das Phänomen, daß diese Randzone alle 5 Jahre Mittelpunkt des Kunstbetriebes ist. Mit dem Museum Fridericianum verfügt die Stadt Kassel über eine Kunsthalle von großem Raum und von großer Aura. Das Gebäude ist zweihundert Jahre alt und wurde als erstes öffentliches Museum auf dem Kontinent errichtet. Also nicht als höfische Privatsammlung, sondern für die Bürger Kassels und Nordhessens. Diese demokratische Vergangenheit wurde dann 1955 von Arnold Bode aufgegriffen und mit neuen Inhalten gefüllt. Daraus hat sich in weniger als zwanzig Jahren die weltweit wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die documenta, entwickelt. Das prägt natürlich den Geist dieses Hauses, das ist physisch spürbar. Ich jedenfalls höre immer noch das Geräusch der drei Motoren aus der "Honigpumpe am Arbeitsplatz", die Beuys hier 1977 installierte, beim Betreten der Rotunde. Wenn sich ein Haus also nach zwanzig Jahren vom symbolischen zum wirklichen Arbeitsplatz anbietet, dann ist das doch Versuchung und auch Verpflichtung. 

D.S.: Wirkt der Geist der documenta also stärker, als viele in Kassel vermuten? 
RB.: Ich habe in der Tat das Gefühl gewonnen, daß nur sehr wenige Kasseler Bürger die internationale Bedeutung dieses Gebäudes für die zeitgenössische Kunst erkannt haben und daraus auch Konsequenzen ziehen würden. Ob Australien , Korea, Südafrika oder Lateinamerika: Jeder der sich mit heutiger Kunst beschäftigt, kennt diesen Ort, was kein anderes Institut in Deutschland von sich behaupten kann. Das ist ein Pfund, mit dem Kassel wuchern könnte, indem der Geist der documenta zwischen den Großausstellungen nicht eingesperrt wird, sondern von diesem Ort entsprechende Signale gesendet werden. 

D.S.: Vielleicht haben Sie ja auch, wenn ich an Ihren alten VW-Bus in der Beuys-Installation "Das Rudel" denke, eine tiefe emotionale Beziehung zu Kassel. 
RB.: Ich habe eine tiefe emotionale Beziehung zu dieser Arbeit und auch zu dem alten VW-Bus, mit dem ich 1968 zum ersten Mal eine documenta besuchte. Schön, daß ich das "Das Rudel" jetzt häufiger sehen kann. 

D.S.: Mit Beuys eröffneten Sie Ihre New Yorker Gallerie. Ist dieser Künstler für Sie noch Maßstab und Anreger? 
RB.: Ohne Zögern kann ich da mit "Ja" antworten. Beuys ist Maßstab und Anreger geblieben. Wir hatten ja generationsbedingt, ein Lehrer-Schüler Verhältnis. Er verkörperte eine seltene Mischung von Kompromißlosigkeit und Menschlichkeit. Kompromißlos gegenüber der Kunst und sich selbst, verständnisvoll gegenüber anderen. Das wurde häufig ausgenutzt, aber auch das hat er akzeptiert. Er hat einfach neue Maßstäbe in die Relation von Leben und Kunst gesetzt, die auch heute noch gelten. 

D.S.: Gibt es heute vergleichbar starke Wegbereiter wie Beuys? 
RB.: Es gab zwei vergleichbare Wegbereiter: vor zweihundert Jahren Goethe und vor hundert Jahren Richard Wagner. Ähnlich wie beim Werk Wagners, mit dem sich die folgenden Komponistengenerationen auseinandersetzten mußten, so setzen sich Künstlergenerationen mit dem Werk von Beuys auseinander. Ich sehe das überall, es fehlt aber von meiner Seite der Abstand für eine Beurteilung. Die ist für Wagner möglich. Das Weitergehen von Wagners Weg führte zur Oper "Wozzeck" von Alban Berg oder vielleicht noch bis Zimmermanns "Soldaten". Hier endet dieser Weg. Aber es gibt viele interessante musikalische Einbahnstraßen. Die Wege vom Hauptstrom führen zurück an die Peripherie. 

D.S.: Durch Ihre Kuratorentätigkeit der letzten Jahre haben Sie die Peripherie des eurozentrierten Kunstbetriebes kennengelernt. Sind von dort nicht nur neue Namen, sondern auch Impulse für die Kunst bei uns zu erwarten? 
RB.: Eigentlich hat mich in der Kunst immer das Periphere gefesselt, Randerscheinungen, Außenseiter. So verstand sich mein Galerieprogramm, das ja vorwiegend Künstler der Fluxusbewegung favorisierte. Fluxus war ausgesprochene Peripherie des westeuropäisch/amerikanischen Kunstgeschehens. Dabei war Fluxus die erste wirklich interationale Kunstbewegung, ein globales Phänomen, entstand es doch gleichzeitig in Europa West und Europa Ost, in Asien, Lateinamerika und den USA. Nur erfolgte damals die Vernetzung der Künstler miteinander auf dem Postweg, mangels anderer Techniken. Diese wurden aber umgehend genutzt und getestet, wie die Satelliten TV-Versuche von Paik zeigen. Paik hat übrigens 1977 zum ersten Mal in der Kunstgeschichte ein Kunstereignis live weltweit übertragen lassen. Von Kassel aus. Zur Eröffnung der documenta 6. Zu einem Zeitpunkt also, als einige der Fluxus-Außenseiter, wie Beuys, Cage oder Paik, zu zentralen Figuren der Kunst geworden waren. Als solche blieben sie natürlich Freunde, brauchten mich aber nicht mehr. Zu dieser Zeit, meine erste Australienreise fand 1978 statt, entdeckte ich die geographische Peripherie und entdeckte dort Künstler die mir Neues zu sagen hatten. Einmal sensibilisiert, machte ich aufregende Entdeckungen an anderen Orten. Besonders aber in Istanbul. Durch die künstlerische Leitung der Istanbul Biennale 1995 öffnete sich der Blickwinkel von türkischen Künstlern auch gezielt auf Künstlerinnen der benachbarten Länder des Orients. 

D.S.: Besteht nicht die Gefahr, daß die Sprache der Kunst an den Rändern verwestlicht? 
RB.: Ich sehe darin keine Gefahr, sondern eine Notwendigkeit, sich verstehen zu können. Ich spreche weder Türkisch, noch Persisch, Indisch oder Koreanisch. Also verständigen wir uns in Englisch. Entsprechend verhält es sich mit der Kunstsprache. Sonst könnten wir die Inhalte, die Botschaften doch gar nicht verstehen. Die neuen Inhalte sind aber gerade das zu Entdeckende. 

D.S.: Catherine David hat in der documenta X den Bildwelten Raum gegeben, die in unmittelbarem, politischen Bezug zur Gesellschaft stehen. Ist es Zufall, daß Ihre erste Ausstellung ("Echolot") für das Fridericianum in die gleiche Richtung zielt? 
RB.: 1977, zur 6. documenta habe ich zusammen mit Beuys die "Honigpumpe am Arbeitsplatz" aufgebaut. Beuys hat dann zu dieser documenta die FIU gegründet, die Free International University, und hat sich für 100 Tage in Kassel aufgehalten und mit Besuchern diskutiert, sowie andere Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik zu Vorträgen und Seminaren eingeladen. Das liegt zeitlich zwanzig Jahre vor der ’100 Tage - 100 Gäste’ - Reihe von 1997 und ist wahrscheinlich etwas in Vergessenheit geraten. Aber ich bin durch die Beuys´sche Schule eines politisch- kritischen Bezugs zur Gesellschaft gegangen. Es gab ja Mitte der 70er Jahre noch einige andere Ausstellungen in direktem politisch-gesellschaftlichen Kontext. Ich habe diese Position nie verlassen und knüpfe auch jetzt und hier wieder daran an. Von daher habe ich allerdings sehr begrüßt, daß die letzte documenta sich gesellschaftlichen Problemstellungen öffnete und einige eurozentristische Positionen und Strukturen in Frage stellte. 

D.S.: Wie notwendig ist Kunst vor dem Hintergrund der aktuellen politischen und sozialen Instabilitäten? 
RB.: Die Unglaubwürdigkeit der großen Religionen und das Versagen ihrer Repräsentanten ist Teil dieser Instabilität. Moralische Maßstäbe können nur noch durch kulturelle Aktivitäten gesetzt werden, durch Bildende Kunst, Literatur, Musik. Nur hier kann sich der menschliche Geist in Freiheit und Kreativität entfalten. 

D.S.: IhrAusstellungsprogramm für Kassel stand auf der Kippe, weil die Stadt zwar die Kunsthalle will, aber eigentlich die Finanzmittel nicht hat. Welche inhaltlichen Verpflichtungen ergeben sich daraus? 
RB.: Die Realisierung der Ausstellungen steht noch auf der Kippe. Die Mittel sind noch nicht bereitgestellt, was aber nichts mit dem Programm zu tun hat, sondern mit der schwierigen finanziellen Lage der Stadt. Wenn man allerdings bedenkt, wie gering der Betrag ist im Vergleich zu dem Image - Schaden, den eine Nichtbewilligung zur Folge hätte, ist die Unentschlossenheit der Stadtverordneten unverständlich. Bei Bewilligung stehe ich zu dem Programm. Bei Nichtbewilligung muß ein Nichtprogramm entwickelt werden. 

D.S.: Sie wollen Ihr Programm aus vielen Einheiten zusammensetzen. Sie wollen geographische Ränder erkunden, Außenseiter präsentieren, frühere documenta-Macher wieder für Kassel gewinnen und auch dem Nachwuchs Aufmerksamkeit schenken. Macht es Spaß, gleichzeitig auf vielen Klavieren zu spielen, oder halten Sie einfach nicht viel von den großen monolithischen Ausstellungen? 
RB.: Mir gefällt Ihr musikalischer Vergleich, auch wenn ich mich nie als Klavierspieler gesehen habe. Eher schon als Dirigent und als Referenz zu einem großen Dirigentenkollegen, der vor etwa 100 Jahren in Kassel debütierte, nenne ich eine für 2000 geplante monolithische Ausstellung : "Das Lied von der Erde". Für das Jahr zuvor, für 1999, steht eine solche Ausstellung unter dem Thema "Zeit". Also eine monolithische Ausstellung pro Jahr. Mehr schaffen wir nicht, aber umrahmt von 2-3 Ausstellungsblöcken, die sich aus verschiedenen Leitmotiven zusammensetzen, und diese Leitmotive sind in der Tat durch geographische Ränder, Außenseiter, Nachwuchs und die Wiedereinladung an Ex-documenta-Leiter besetzt. Es gibt einfach zu viel zu tun, in diesem Haus, zur Jahrtausendwende. Man muß uns nur endlich beginnen lassen!