Geschichte


Friedrich Appel: 
Das Museum Fridericianum in Kassel 
(hier arbeiteten die Brüder Grimm als kurfürstliche Bibliothekare von 1814 bis 1829) 
Lithographie, um 1840

Veit Loers:
"Neun Meter: zu sachlich, zu niedrig"
(1994 veröffentlicht in: 120 Meisterwerke, Höhepunkte einer fürstlichen Gemäldesammlung aus Renaissance und Barock, 1994, S.26-31)

Das Museum Fridericianum, eröffnet 1779, gilt als der erste öffentliche Museumsbau auf dem europäischen Kontinent. Dementsprechend neu und herausfordernd gestaltete sich auch die Aufgabe für den hugenottischen Architekten Simon Louis du Ry. Er konnte sich auf keinerlei Vorbilder berufen, ihm allein war es übertragen, zum ersten Mal in der Architekturgeschichte ein Gebäude für die Funktion "Museum mit Publikumsverkehr" zu entwerfen.

Das Britische Museum in London war zwar öffentlich zugänglich, aber ursprünglich nicht für diesen Zweck konzipiert. Dennoch ist es kein Zufall, daß Landgraf Friedrich II., dessen aufklärerisches Verständnis zu dem Kasseler Museumsbau führte, just im Jahr des Baubeginns 1769, eine ausführliche Englandreise unternahm. Simon Louis du Ry, "Hofarchitekt zu Cassel", entwickelte ein Konzept von Räumen, die sich nach ihrer Funktion richteten.
Untergebracht werden mußten die Bibliothek mit einem großen Saal, die Galerie der Antiken und der Moderne sowie verschiedene Kabinette von der Naturgeschichte bis zur Physik und ein Saal , in dem die Ahnengalerie der hessischen Landgrafen ab Philipp dem Großmütigen († 1567) als Wachsfiguren in historischen Kostümen standen. Die zweckmäßige Anordnung in Sälen mit guter Belüftung, mit hellem Licht und einem vorteilhaften Blick auf die Exponate wurde von Besuchern aus ganz Europa bewundert, von Zeitgenossen in Kassel aber auch als zu sachlich kritisiert. Von einer "romanisch -unpersönlichen Idee" des Museums war später die Rede, während es mancher gerne etwas mehr "germanisch-persönlich" gehabt hätte.

Doch bevor das Museum nach zehnjähriger Bauzeit eröffnet werden konnte, hatte du Ry zunächst einige bautechnische Schwierigkeiten zu bewältigen. Zwei Jahre vor Baubeginn waren die an dieser Stelle befindlichen Befestigungsanlagen abgerissen worden, die davorliegenden Gräben wurden zugeschüttet. Wegen dieser aufgeschütteten Gräben mußten die Fundamente des Fridericianum fast neun Meter tief gemauert werden, um auf festen Baugrund zu stoßen. Dies dauerte allein mehrere Jahre und hätte noch mehr Zeit beansprucht, wenn der Landgraf nicht jedes Jahr das Budget verdoppelt hätte.

Das Gebäude war noch nicht vollendet, da wurde bereits Anstoß daran genommen, daß es zu niedrig liege, keinen Sockel habe und nicht beherrschend genug den Friedrichsplatz dominiere. Der Architekt argumentierte mit dem Gefälle des Geländes längs der Front und nach hinten, die eine Höhersetzung nicht möglich mache, das Gebäude wäre zur heutigen Frankfurter Straße hin in eine komische Schieflage geraten. Trotzdem ließ der Landgraf aus Frankreich den berühmten Revolutionsarchitekten Claude Nicolas Ledoux kommen, der Gegenvorschläge entwickelte. Er übernahm die Struktur von du Ry im unteren Teil, setzte dem Gebäude dann aber ein kastenartiges Obergeschoß auf, das wiederum von einem Rundtempel gekrönt wurde.

Doch Friedrich II. verwarf die Pläne und ließ nach den Ideen von du Ry weiterbauen. Der wiederum veranlaßte, daß entlang der Front das Erdreich abgetragen wurde, was nach fünf Wochen Arbeit geschehen war und seine Wirkung nicht verfehlte. "Der Sockel und die Kellerlöcher der Bibliothek erschienen gleichmäßig über der Erde in der ganzen Länge des Bauwerkes", schrieb du Ry an seine Schwester, "und ich fing an, die Öffentlichkeit auf meiner Seie zu haben."

Anfang 1779 beginnt der Einzug der Bibiliothek und der Kunstgegenstände, während im Gebäude noch die Handwerker arbeiten, im Dezember ist der Umzug vollendet. Der normale Betrieb kann beginnen. Allein bis 1796 finden sich im Besucherbuch 14 000 Namen von auswärtigen Besuchern. Kassel selber hatte zu dieser Zeit rund 20 000 Einwohner.


Veit Loers:
"Vom Elefantenzahn zur Honigpumpe"

Der Beginn der Aufklärung mit der französischen Revolution stellte auch einen wesentlichen Einschnitt in der Geschichte der Kunst dar. Das, was Kunst sein könnte, wurde sozusagen erst einmal durch das Aufstellen von Kunstwerken erprobt. Viele Schlösser änderten ihre Bestimmung und wurden im Lauf der Zeit zu Museen. Was einmal der Repräsentation fürstlicher Familien diente, übernahm nun die Repräsentation von Kunst und Geschichte. Bekanntestes Beispiel ist der Louvre, wo man auf der Suche nach Leonardos "Mona Lisa" kaum mehr daran denkt, daß hier das Zentrum der französischen Macht lag, lange bevor Versailles an seine Stelle trat. Nach der französische Revolution richtete hier der Ruinenmaler Hubert Robert die "Grande Galerie" ein. Tausende von Pariser Bürgern flanierten nun in den ehemals königlichen Räumen, zu denen früher der Zutritt strengstens verboten war.

Das Kasseler Museum Fridericianum hat dagegen in seiner Frühzeit kein einziges Gemälde beherbergt - wenn man "Gemälde" als Teil einer Bildergalerie versteht. Aber es gab hier natürlich Porträts, ethnographische und volkskundliche Darstellungen. "Museum" war nicht gleichbedeutend mit Gemäldegalerie, sondern erst einmal mit einem Ort, an dem man sich der Erbauung und Erinnerung hingab, sei es an historische Persönlichkeiten, an die Antike oder an die Wissenschaft.
Das Fridericianum diente zunächst einmal als fürstliche Bibliothek, zwar symmetrisch mit Treppenhaus in Zentrum und Seitenflügeln wie ein Schloß, aber ohne Wohngemächer.

Sein Name war außen angeschrieben, und seine Skulptur stand auf dem Platz: doch Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel wollte hier nicht residieren, sondern nur repräsentieren. Das Wort "Bildung" stand im Mittelpunkt, und die ausgestellten Bücher, Skulpturen und Geräte waren nachts alleine mit dem Genius der Geschichte. In der Beletage befand sich eine über acht Meter hohe und fast siebenundsiebzig Meter lange Prachtgalerie, die für über 100.000 Bücher ausgelegt war und im Jahr 1785 immerhin 33.965 Buchbinderbände ihr eigen nannte. Dazu kamen noch Handschriften und Dubletten. Alle Wände waren bis zur Decke mit Bücherregalen verkleidet, die Raummitte und die Raumenden jeweils durch Paare von mächtigen kannelierten Holzsäulen gegliedert. Über den Fenstern lief ringsherum eine hölzerne Galerie. Große ovale Tische mit Stühlen sowie mehrere Erd- und Himmelsgloben verliehen dem riesigen Saal so etwas wie Gelehrtenatmosphäre. In den Seitenflügeln befanden sich zum Steinweg hin das Kupferstichkabinett, ein Handschriftenraum und ein Kartensaal sowie der einzig beheizbare Raum - im Winter ein für Bibliothekare und Benutzer angenehmer Umstand, den wir heute als selbstverständlich vorraussetzen. Auf der anderen Seite waren Kabinette mit optischen, mathematischen und physikalischen Instrumenten untergebracht.

Das, was wir gewohnt sind, Museum zu nennen, besetzte die Erdgeschoßräume. In den langen Galerien zu Seiten des Foyers, wo heute Ausstellungsräume mit Heizrohren an der Decke ein mißverstandenes Bild moderner Ausstellungsästhetik vermitteln, konnte man die Antikensammlung bewundern. Zwischen dorischen Säulenreihen standen so, daß der Mittelgang frei blieb, auf Podesten mehrere überlebensgroße Skulpturen: Paris, Didius Julianus, Hygieia, Apoll und Herkules, Minerva, ein weiterer Apoll und ein Ringer werden in der Beschreibung des Architekten Simon Louis du Ry aufgezählt. Sie sind nur noch zum Teil mit der heutigen Antikensammlung in Schloß Wilhelmhöhe identisch. Gegenüber dem Vestibül war als Pendant die "Galerie der modernen Statuen", kein Ausstellungsraum mit Werken lebender Bildhauer wie damals Canova oder Thorwaldsen, sondern ein Saal voller Antikenkopien in Marmor, Bronze und Gips. So stammten etwa sechs bronzene Abgüsse von berühmten antiken Skulpturen der Sammlung Medici in Florenz. Die Kabinette der Seitenflügel bargen Sammlungen mit etruskischen, griechisch-römischen, ägyptischen und germanischen Statuetten, eine Kollektion von Gemmen und die eindrucksvollen Nachbildungen römischer Bauten aus Kork, die Antonio Chichi in Rom angefertigt hatte. Schließlich befanden sich in diesem Teil des Fridericianums auch das Medaillenkabinett, ein Raum mit "historischen" Vasen aus allerlei edlen Materialien und ein Automaten- bzw. Uhrenkabinett.

Der zweite Seitenflügel enthielt naturkundliche Sammlungen, also Minerialien und Gesteinsproben aus Hessen sowie "aus denselben Gesteinen gefertigte Arbeiten". Es folgten ausgestopfte Vögel und Tiere sowie Tierbilder, ein "Zimmer, worin Seegewächse und Muscheln zu sehen", ein Schmetterlings-, Mosaik- und Steinkabinett. Das liest sich im Museumsinventar von 1836 so: "Die vorzüglichsten Gegenstände sind: Der ausgestopfte Elephant und dessen gegenüberstehendes Skelett, ein spiralförmig gewundener Elephantenzahn; das Skelett eines Delphins; der Kopf vom Hypopotamus (Nilpferd); zwei indianische Zwerg- oder Reishirsche in runden Glaskästchen."

Was wir heute mit dem Sammelbegriff "naturwissenschaftliche Sammlungen" umschreiben, mischte sich kokett mit Kunsterzeugnissen, die beides enthielten: Natur aus Material und Natur aus Sujet. Die Ordnung der Sammlung war zwar nach Sachgebieten angelegt, sie gehorchte aber noch dem Geist barocker Ikonographie. Die Kunst stand im Mittelpunkt, aber nur als verklärtes Ideal von Antikensehnsucht. Immerhin gründete Friedrich II. nach seiner Italienreise im Jahre 1776 eine "Societé des Antiquités", als deren Präsidenten er gerne Johann Joachim Winckelmann gesehen hätte. Die Sammlungen der beiden Flügel enthielten in Gegenüberstellung die Kunstfertigkeiten der Natur und des Menschen. Noch über der Kunst thronte die Wissenschaft in Form der Bibliothek, wozu in den Seitenflügeln neben dem erwähnten Kupferstichkabinett Räume mit optischen, mathematischen und physikalischen Instrumenten gehörten. Merkwürdig erscheinen uns heute weitere Sammlungen, die darüber, in den Mezzaningeschossen der Seitenflügel untergebracht waren, dort, wo sich heute das documenta-Büro und das Vitrinendepot befinden. Es gab eine Modellkammer, Zimmer mit historischen Waffen, Trachten, ethnologische Sammlungen und - last not least - eine Ahnengalerie aus Wachs.

So erwähnenswert dieses Interesse an Sitten und Geschichte fremder Völker anmutet, es ist noch Teil eines feudalen Kosmos, wo Ethnologie - wie auf den barocken Deckenbildern - die Wissenschaft der vier Erdteile ist, und wo das Interesse an China sich in der spielerischen Mode eines chinesischen Dorfes im englischen Park von Schloß Wilhelmshöhe ergeht. Kurios waren auch zwei Kabinette mit alten Musikinstrumenten. Eines beherbergte Saiteninstrumente, das andere Blasinstrumente. Sie erstreckten sich Seite an Seite mit einer Kammer, die Maschinenmodelle barg. So war die Musik als Museumsobjekt nicht der Kulturgeschichte, sondern der Mechanik beigeordnet, eine Auffassung, der man auch noch später im Münchner Deutschen Museum begegnete. Ein Verbindungsgang zum mittelalterlichen Zwehrenturm ermöglichte den Zutritt zur astronomischen Sammlung und Sternwarte. Die Erforschung des Himmels bildete den Abschluß dieses wahrhaft universalen frühen Museums. Noch einige Jahre zuvor hatte das Konzept anders ausgesehen. Da war von Lehrsälen, Gipssammlungen, Anatomien und Werkstätten die Rede. Aber schließlich triumphierten die Exponate, und dabei ist es bis heute geblieben.

Friedrich II. hatte das Museum Fridericianum seinen Untertanen zugedacht. Ein kleiner Trost für die Repressalien, durch die tausende junger Hessen gezwungen wurden, sich als Söldner auf englischer Seite gegen die amerikanischen Freiheitskämpfer zu verdingen. Die englischen Subsidiengelder, man kann sie auch Kopfgelder nennen, ermöglichten großzügige Antikenkäufe und eben den Bau des Fridericianums, das mit dem Rücken zum mittelalterlichen Kassel eine neue Ära des aufgeklärten Absolutismus einleiten sollte. Damals konnte der hessische Landgraf nicht ahnen, daß ein bürgerlicher Emporkömmling mit dem glänzenden Titel eines Königs von Westphalen dreißig Jahre später aus dem Museum ein "Palais des Etats" zu machen gedachte. Jerome, der Schwager Napoleons, war der Betreiber, und Grandjean de Montigny sein Architekt. Als Kind der französischen Revolution konnte Jerome es sich nicht leisten, den schloßähnlichen Bau als Residenz zu nutzen. So sollte sein Mittelbau, das zur Rotunde veränderte Treppenhaus, die Volksherrschaft als Parlamentssaal repräsentieren, während die symbolisch aufgestellte Statue Napoleons zeigen sollte, wer wirklich an den Hebeln der Macht saß. Die Umbaupläne sahen seitlich jedoch auch Repräsentationsräume vor. Man war zeitlich nicht weit entfernt vom restaurativen Geist der Bourbonen und vom Throngehabe des bayerischen Königs Ludwig I. Auch die Sammlungen des Museums erfuhren Einschnitte. Zwar hatte sich Napoleons Begierde mehr auf die Gemäldegalerie gerichtet - Claude Lorrains Tageszeiten sind so über einen Deal der französischen Kaiserin Josephine in der St. Petersburger Eremitage gelandet - , aber es scheinen eine ganze Menge von Sammelobjekten des Fridericianums französische Liebhaber gefunden zu haben. So konnte Montigny feststellen: "Der Verlust der meisten Exponate und der Verfall anderer erlaubte es, sie zusammenzuziehen und die wichtigsten Stücke im Erdgeschoß zur Ausstattung des Saales herzunehmen." Erst hatte man Preziosen aus Fürstenbesitz unter dem Titel "Museum" zur allgemeinen Bildung vereinigt und zugänglich gemacht, um sie nun wieder für Repräsentationzwecke zu opfern, die in der Nachfolge der Aufklärung standen.

Nach Jeromes Vertreibung griff man auf das ursprüngliche Museumskonzept zurück. Aber nicht mehr die Idee von Kunst und Wissenschaft zum Ruhme des kurhessischen Fürstenhauses stand zur Debatte, sondern das Inventar der Sammlung. Damit konnte eine der Evolutionstheorie entlehnte chronologische Ordnung ihren Siegeszug antreten und den Triumph des positivistischen Museums feiern. Aber nicht lange. Nachdem Kassel preußisch geworden war, mußten etliche Exponate ihre Reise nach Berlin antreten. Die einstmals landesväterliche Bildungsanstalt hatte sich der deutschen Vernunft zu beugen. Im Jubiläumsprospekt zur Säkularfeier 1879 verbeugen sich Exponate und Wissenschaftler devot vor dem Hohenzollernthron: "Wir sehen den Stoff geordnet, eine Erklärung an der Stirn tragend, jedermann verständlich gemacht; ... wir sehen ihn zusammengetragen, wo es sich um die Kenntnis provinzieller Vorgeschichte oder provinzieller Naturerscheinungen (sic!) handelt, lediglich um sich in den Dienst zu stellen einer allgemeineren, von Zentren aus geleiteten Wissenschaft."

Der wohlverdiente Museumsschlaf des Fridericianum war 1913 endgültig beendet. Die letzten Sammelobjekte wurden in diesem Jahr dem Hessischen Landesmuseum zugeführt, das Fridericianum war nur noch Bibliothek. Hier könnte die Geschichte enden, hätten nicht englische Brandbomben im September 1941 der alten Einrichtung endgültig den Garaus gemacht. Den Rest besorgte das Bombardement Kassels am 22./23. November 1944.
Nur noch die Umfassungsmauern und der Zwehrenturm blieben erhalten. Wer hätte gedacht, daß das Museum Fridericianum schon ein Jahrzehnt später wie ein Phönix aus der Asche wiederauferstehen würde. Der Kasseler Kunsterzieher und Designer Arnold Bode nutzte die Gelegenheit der Bundesgartenschau 1955, um Zonenrandförderungsmittel und Besucher nach Kassel zu holen. In einem Kunstkreis "Abendländische Kunst des 20. Jahrhunderts" wurde die Idee ausgebrütet, und als Fachmann holte sich Bode den Berliner Museumsmann Werner Haftmann. Die im Rohbau notdürftig wiederaufgebaute Ruine Fridericianum überraschte durch ihre einfache, fast primitive Materialästhetik: Betonboden, leicht verschlämmte Ziegelmauern, Plattenwände aus Heraklith, weiße und schwarze Kunststoffolien, die nicht nur die Fenster abdeckten, sondern auch unschöne Mauerpartien oder das direkte Tageslicht kaschierten. Schwarzgestrichene Holzlatten stabilisierten die Raumteiler und schufen auch Blenden für die Beleuchtung, die so indirekt auf die Bilder niederrieselte. Manche von ihnen waren an Längseisen vor der Wand befestigt. Alles in allem hat man dieses Austellungsdesign noch zwei Jahrzehnte später in den Museen des Ostblocks gesehen.
Seine Ursprünge liegen in der Ausstellungsarchitektur des Bauhauses und der italienischen Rationalisten der 30er Jahre. Die abstrakte Malerei der 20er und 30er Jahre war der Schwerpunkt der Ausstellung, all das, was zu Beginn der 30er Jahre unter dem Sammelbegriff Abstraction-Création gelaufen war. Der internationale Siegeszug des Informel wurde auf dieser documenta noch nicht gezeigt.

Die "formlose" Malerei war erst bei der d2 angesagt. So überwog die "altmeisterliche" Variante der neuen Abstraktion mit Namen wie Manessier, Winter, Hartung, da Silva, Bazaine, Corpora, Capogrossi und Vedova. In diesem Taumel der Identifikation der "Moderne", mit Namen wie Mondrian, Picasso, Klee, Kandinsky und Chagall hatten Konzeptualisten und russische Suprematisten wie Duchamp, Moholy-Nagy, Lissitzky oder Malewitsch keinen Platz. Marcel Duchamp mußte in New York erst auf das Ende des Informel warten, bis er wieder ins Rampenlicht rückte. In der Rotunde, vor dem neuerrichteten Treppenaufgang, stand wie ein Mahnmal für die "Entartete Kunst" Wilhelm Lehmbrucks "Kniende", umgeben von Gemälden Oskar Schlemmers. Trotz Abstraktion sollte ja ein modernes Menschenbild demonstriert werden, eines, das die alten, aber auch primitiven Kulturen miteinschloß, die in der Eingangshalle demonstrativ auf einer Fotowand gezeigt wurden. Dazu gehörte ebenso das zentral gehängte, sentimentale Picasso-Bild "Mädchen vor einem Spiegel" und ähnlich populistische Chagall-Bilder. Skurriler und dadurch als Arrangement überzeugender war der große Skulpturensaal im Erdgeschoß, wo Max Ernsts "König und Königin" zentral an der Rückwand thronten und mit zwei Nierenformen von Hans Arp eine Achse bildeten. Ein buntes Mobile Calders gab der Halle, die aus einer Art Pietät die Säulen des ersten Fridericianum in Beton aufgegriffen hatte, ein typisches Image der 50er Jahre.

Die Erfolgsgeschichte der documenta ist bekannt. 1959, auf der documenta 2, wurde noch mehr inszeniert: mit nun schon perfekterem Bode-Design, der die schwarzweißen Raster und Flächen wie bei einem überdimensionalen japanischen Teehaus einsetzte. Der große Bibliotheksraum diente für eine Gegenüberstellung von Jackson Pollock und Ernst Wilhelm Nay, ein ungleiches Paar, das mit für diese Zeit gewaltigen Bildern aufwartete. Sam Francis beherrschte die Rotunde. Das Fridericianum war jetzt ein reiner Gemäldepalast, da man die Skulptur in die Orangerie verpflanzt hatte. Wieder wurde documentiert: Kubismus, Surrealismus, aber auch endlich die ganze Fülle des Tachismus, mindestens so sehr angefeindet wie bewundert. Die documenta 3 (1964) war der Höhepunkt der Malerei-Inszenierung. Bode verbannte die obligatorischen Klassiker in die jetzige Neue Galerie und schuf farbige Erlebnisräume: vor allem Nays vieldiskutierte riesige Deckenbilder mit "Augen", das Bernhard-Schultze-Kabinett mit den Mighoffs, Vedovas "Plurimi di Berlino" oder die Wandbildformationen von Sam Francis. Die Ästhetik des Raumes als Gefühlstransporteur zwischen Bild bzw. Skulptur und Besucher hatte seinen Siegeszug angetreten - leider nur mit den "Veteranen" der documenta 2. Wo blieben Yves Klein, Lucio Fontana und Piero Manzoni, die tragenden europäischen Säulen dieser Zeit? Gerade weil Raumkunst gefragt war, wurde der Raum des Fridericianums unkenntlich zerteilt. Das sollte sich bei der documenta 4 ändern. Die große Halle des Obergeschosses war nun ausgeräumt, frei für die Riesenformate der Pop-Art, allen voran das bis zur Decke reichende "Big Modern Painting" von Roy Lichtenstein und James Rosenquists "Fire Slide" in der Rotunde. Nun waren auch Hard-Edge-Maler wie Barnett Newman und Elsworth Kelly zu sehen oder die neue Minimal-Art mit Donald Judd und Robert Morris. Die Informel-Reste waren beseitigt, aber Minimal-Art wurde als Variante des Pop ausgestellt und Conceptual-Art fehlte wiederum.

Alles braucht seine Zeit. Harald Szeeman holte bei der d5 (1972) nun Installationen, Audiovision, und Konzeptualismus ins Fridericianum. Statt Schauachsen Gesprächsebenen. Die Generation der 68er diskutierte gerne, und hatte man den Stand der Buchhandlung König passiert, mußte man sich im Büro für Direkte Demokratie von Joseph Beuys der Diskussion stellen. Aber es gab auch etwas fürs Auge: Mario Merz mit Iglu und Motorrad in der Rotunde, zahlreiche Neonwerke und das Luftschiff von Panamarenko in der "Hohen Halle". Schließlich nutzte James Lee Byars den Museumsgiebel als Living Sculpture, und in einer durchsichtigen Riesenblase von Haus-Rucker-Co, die sich aus einem der Fenster im Obergeschoß nach außen stülpte, sah man eine Oase mit Palme.

Immer mehr wird nun der Friedrichsplatz miteinbezogen. Setzte Manfred Schneckenburger bei der d6 mit dem Erdkilometer von Walter de Maria, dem Riesenkubus von Serra und dem Baumann-Laser sichtbare und unsichtbare Signale, so blockierte Joseph Beuys bei der d7 recht drastisch den Rasen vor dem Fridericianum. Jan Hoets größte und populärste Außenmonumente waren der "Himmelsstürmer" von Jonathan Borofsky und der "Signalturm der Hoffung" von Mo Edoga - inmitten eines jahrmarktähnlichen Atriums von Verkaufsbuden und Cafés.

Höhepunkt der d6 (1978) im Innern des Fridericianum war sicherlich die Honigpumpe von Joseph Beuys, die die gesamte Rotunde besetzte. Eine solche utopische Vereinnahmung von Raumteilen für künstlerische Zwecke hat es seitdem nie mehr gegeben. Rudi Fuchs mußte fünf Jahre später mit einer kleinbürgerlichen Museumssanierung vorlieb nehmen und konzentrierte sich darauf, die Bilder und Objekte einer wieder bildhaft gewordenen Zeit nebeneinanderzustellen, wie ein Spruch von Lawrence Weiner vom Giebel des Hauses propagierte: "Viele farbige Dinge nebeneinander angeordnet bilden eine Reihe farbiger Dinge". An dieser Verinnerlichung kamen auch die nächsten documenta-Ausstellungen nicht vorbei. 1987 und 1992 versuchten die Ausstellungsarchitekten dem behäbigen Inneren durch Verschachtelung und Verfremdung ein neues Image zu geben. Es gab den Raum im Raum bei Schneckenburger und das charmante Durcheinander bei Hoet.

Inzwischen war im Museum Fridericianum aber noch etwas anderes passiert. Seit 1988 gab es zwischen den documenten permanente Ausstellungen der Kunsthalle "Museum Fridericianum". Mangels Budget konnte das Haus jedoch nicht auf den Kopf gestellt werden. Zwar blieben bei der Eröffnungsausstellung, dem "Schlaf der Vernunft", die Besuchermassen aus, doch das Fridericianum durfte wieder als Gebäude funktionieren. Wer eine mystifizierende Ausstellung à la Goya erwartet hatte, sah sich brüskiert. Alte Museumsobjekte aus der Aufklärungszeit in der Rotunde standen zeitgenössischer Kunst gegenüber, und all diese Exponate schienen zu schlafen - in den weiten Räumen träumten so die Bilder von Lichtenstein oder die "Rokoko"- Skulpturen von Jeff Koons.

In der Folge wurde u.a. der Wiener Aktionismus der 60er Jahre erstmals umfassend gezeigt. Als Pierre Soulages dann 1989 die Räume mit seiner Retrospektive verwandelte, fragte der damalige stellvertretende sowjetische Kultusminister - zu einer Visite in Kassel -, ob ein schwarzes Bild nicht reiche. Zwischendurch stieß man im zentralen Mittelsaal auf Gemälde von documenta-Übergröße wie etwa Alfons Muchas "Slawisches Epos" oder auf Riesenmodelle wie die Rednertribüne des russischen Konstruktivisten Gustav Klucis. Der Vorteil der Kunsthalle, nun eine der größten in Deutschland, war ihr Raumangebot. Man sah den Westkonstruktivisten Moholy-Nagy dem Ostkonstruktivisten Klucis in einem Hause gegenübergestellt oder auch Paul Klee mit Willi Baumeister. Ebenso konnte man den Besucher wie bei"Italiens Moderne" über zwei Stockwerke führen, ohne daß er denselben Weg zweimal gehen mußte. Vielleicht hat Günther Förg mit seiner großen Ausstellung 1991 am eindrücklichsten gezeigt, was Kunst in diesem Gebäude vermag, ohne daß man es herausputzen muß.

Damit war es nach der documenta 9 vorbei. In "Shapes and Positions" traf sich zwar noch einmal die Welt der Minimal-Art mit wichtigen Arbeiten und meditativen Räumen von Künstlern wie Ryman und Judd. Aber mit dem von den Gesellschaftern geforderten Umzug des Kasseler Kunstvereins in den rechten unteren Flügel fehlt seit über einem Jahr die Symmetrieachse. So wurde sie behelfsmäßig in das Dachgeschoß verlagert, um die documenta-Arbeiten von Beuys zu zeigen und dessen großes Vorbild Rudolph Steiner mit seinen "Tafeln" zu präsentieren. Die letzte, auf den Raum bezogene Ausstellung fand im Frühjahr statt. Brice Marden beseelte mit Zeichnungen und Bildern die Hauptsäle.

Nun sind neue Aktivitäten angesagt. Während sich das unkonventionelle "Museum auf Zeit" in den Randzonen des Fridericianums räkelt, werden die "Alten Meister" für längere Zeit Einzug in der Beletage halten. Der Plan von Georg Baselitz, eine Auswahl der Meisterwerke ohne ihre Rahmen zu zeigen, scheiterte an konservatorischen Bedingungen. So wird das ehrwürdige Gebäude nach vielen Jahren Pause wieder ein "richtiges" Museum - oder es tut wenigstens so. Aber keine Angst, den Bezug zur Aktualität, den Landgraf Friedrich II. auf seine Weise gesetzt hatte, wird man auch bis zur nächsten documenta nicht vermissen müssen. Selbst wenn das gewaltige Haus so verschiedenartig zergliedert wurde, die internationalen Aktivitäten gehen weiter. Denn auch bei kleinem Budget und wenig Raum behält wirkliche Kunst ihren großen Anspruch.
Veit Loers, 1994