Montenegro

 

Igor Rakčević

Jelena Tomaćević

Natalija Vujoćević

 

English version

 

Das Kreuz oder die Geometrie des Schicksals

Wohlwissend, dass vereinfachte Schlussfolgerungen stets nur begrenzt zutreffen, könnte man durchaus zu Recht behaupten, dass die derzeitige sozial und vor allem kulturell disharmonische Realität in Montenegro durch zwei äußerst konträre Einflussbereiche bedingt ist. Einerseits „drückt“ das Schwergewicht der Tradition trotz (oder gerade wegen) ihrer recht reichhaltigen kulturellen Kräfte hin zum sozialen Stillstand; andererseits scheint es, als überdeckten die „globalistische“ Verteilung der Macht, ihre soziokulturellen Verlaufsbahnen und die Vielfalt der Mediennetzwerke den starken Bereich der Tradition und initiierten und entwickelten dabei verschiedene Prozesse wie Zerfall, vereinheitlichende Umorientierung und „Beschleunigung“. Das Gesamtbild der sozialen Realität in Montenegro wäre jedoch nicht ganz vollständig, ließe man neben diesen beiden Faktoren die Erfahrung des Zusammenbruchs eines scheinbar stabilen ideologischen Systems und die „übergangsweise“ Umprogrammierung sozialer Funktionen und Mechanismen außer Acht, die nach dem Zusammenbruch neu entstanden sind. Hinzu kommt das Trauma des blutigen Zerfalls des früheren gemeinsamen Staatsgebildes und die Instabilität, die Unsicherheit und die als „temporär“ empfundene Identität des heutigen Staates. Spuren dieser sozialen Symptomatik und dieses turbulenten historischen Kontexts lassen sich zweifellos auch in den komplexen, in Intellekt und Phantasie ablaufenden Prozessen nachverfolgen, die künstlerischem Handeln zugrunde liegen. Zwar werden solche Spuren weniger als unmittelbar erkennbare visuelle Zeichen in ihrer Erscheinung sichtbar, wiewohl auch solche Fälle vorkommen, sondern eher in der spezifischen inneren Dramaturgie der Arbeit, die sicher auch auf die Erfahrung einer zutiefst instabilen Existenz verweist. Dennoch darf man aber keinesfalls vergessen, dass sich in der Geschichte der montenegrinischen Kunst solche Arbeiten absolut nicht auf die dramatische jüngste Vergangenheit beschränken, und dass sie in einer langen Tradition wurzeln, die sie jedoch gleichzeitig – so paradox es auch klingen mag – zu überwinden suchen! Die Geschichte dieser Kunst, etwa der letzten 100 Jahre, basiert – und das ist beispiellos – auf „der Mythologie des Ausdrucks, nicht auf der Semiotik verteilter Zeichen“. 1 Ihre Diskurse sind ausgesprochen existenzialistisch, selbst dort, wo es beispielsweise um Aussagen geht, die man im weitesten Sinne als Formen von minimalistischer linguistischer Kultur definieren könnte. Genau genommen hat sie keinen unmittelbaren Zugang zu oder Interesse an intellektueller Reflexion, kalter Analyse und Tautologie, was auch weitgehend den vorherrschenden Selbstidentifikationsprozessen der montenegrinischen Kultur im Allgemeinen entspricht, die eher zur Mythenschöpfung und weniger zur Reflexion tendieren. Oder, um es in andere, ebenso bekannte Metaphern zu kleiden – diese Kunst ist eher dunkel, chthonisch, diabolisch und dionysisch denn licht, engelhaft oder apollinisch.

Die Geometrie des Schicksals, der diese Kunst einen so kraftvollen symbolischen Ausdruck verleiht, lässt sich angemessen wohl nur in Gestalt der Kreuzform darstellen. Das Kreuz steht hier nicht allein für „Opfer, Leiden und Qual“, sondern in erster Linie für den Zustand einer „Zerrissenheit“, für eine „Überschneidung“ oder eine „Mittellinie“ zwischen zwei Welten (Ost und West), für das Bedürfnis, die schweren Vertikalen des Archaischen und die obsessiven Horizontalen der Informationstechnologie miteinander zu versöhnen. 2 Oder, um es in die (ohnehin problematischen) theoretischen Begriffe von kulturellen „Zentren“ und „Peripherien“, von „Metropolen“ und „Provinz“ zu fassen: Diese Kunst ist eindeutig den unreinen, hybriden Vokabularen und Entwürfen der „Peripherie“ und „Provinz“ zuzurechnen, doch gerade dank ihrer hybriden und kreolischen Natur ist sie auch ausgesprochen subjektivistisch und vital. Und trotz ihrer Vielfältigkeit in Form und Vokabular könnte man sie auch unter diesem Aspekt wiederum als zutiefst traditionsverwurzelt bezeichnen. Ihr klarer Subjektivismus geht auf authentische, grundlegende Wesenszüge der patriarchalischen Gesellschaft in Montenegro zurück, die auffallend „un-anonym“ ist, sprich eine Gesellschaft, die auf attributiv-subjektiver, persönlicher Partizipation an historischen Prozessen basiert. Und unter diesem Aspekt erscheint nicht einmal die Geschichte des Krieges als „lediglich“ kollektive Geschichte, sondern als eine Geschichte von individueller Partizipation mit ganz konkreten Vor- und Zunamen und Patronymika, die schon die bloße Möglichkeit einer Anonymisierung im Keim verhindern.

Somit zeigen sich in dieser Kunst nicht nur bestimmte spezifische, lokale Obsessionen und Phantasien, sondern in ihrem Bild lassen sich auch klar die Zeichen der heutigen globalen Verlaufswege der kulturellen Entwicklung ausmachen. Der Zerfall der „großen Erzählungen“ und Ideologien, der Verlust einer sinnstiftenden sozialen Perspektive und die Unmöglichkeit, die „Welt als ein Ganzes“ zu denken, gehen einher mit einer enormen Konzentration fragmentarischer Identitäten und einer Internalisierung und Expansion der Bedeutung von unüberschaubar vielen „kleinen Historisierungen“ bzw. ihrer nicht-narrativen Konstrukte. Die Unaussprechlichkeit der Bedeutung, die Unmöglichkeit sie zu analysieren oder zu bestimmen, setzt der Kultur der Narrativität, die ja auf der Ursprünglichkeit der gesprochenen Sprache aufbaut, enge Grenzen, und schafft somit Raum für weitere Argumente für die offensichtliche Vorherrschaft der Kultur des Bildes und seiner fraktalen Natur.

Um schließlich auf das Bedürfnis konkreter historischer Identifikation zurückzukommen, ließe sich sagen, dass die heutige montenegrinische Kunstszene oder zumindest jener Teil von ihr, der sich mit den interessantesten und wichtigsten Problemen befasst, im Wesentlichen in den 1990er-Jahren entstanden ist. Es war eine Zeit deutlicher Expansion, in der verschiedene mediale Praktiken entstanden, geeignete theoretische und kritische Unterstützung vorhanden war und inhaltlich wegweisende Ausstellungen stattfanden, wobei die Biennale von Cetinje immer wieder zu den bedeutendsten zählte. Sie ermöglichte nämlich die Begegnung – und die dabei unvermeidlichen „Kraftproben“ – mit entsprechender Kunst der internationalen Kunstszene. Ebenfalls in dieser Zeit schwand im Prinzip auch das Interesse an denjenigen Repräsentationsmodellen, die noch an jener grundlegenden „Physikalität“ der Welt festhalten, die sich in Verweisen auf die Erde und auf das Paradigma der „Schwerkraft“ verkörpert. Diese Dekonstruktion der geeinten, gerundeten Körperlichkeit des künstlerischen Objekts und die Verlagerung des Interesses auf konzeptualisierende Verfahrensweisen, wie „unsauber“, „hybrid“ und „existenzialisiert“ sie auch sein mögen, könnte man als eine etwas verspätete Reaktion auf künstlerische Erfahrungen sehen, die historisch auf der Szene der Metropolen bereits erreicht sind. Primär jedoch verweisen sie ebenso auf die authentische (empfundene) Vorstellung der allgemeinen Fragmentierung und Virtualisierung der Welt wie auf das fundamentale Paradox der Tendenz, diese metaphysisch zu überwinden, die wieder auf ihre anfängliche Aporie zurückgeworfen wird: Es ist unmöglich, die Welt durch Denken zu erfassen, ohne in ihr zu bleiben!

Vom Serbischen ins Englische: Srdjan Vujica

Vom Englischen ins Deutsche: Sebastian Viebahn

1) Tomaž Brejc, Temni modernizem, Ljubljana: Cankarjeva založba, 1991, S. 6.

2) Den Ausdruck “Geometrie des Schicksals” und der Gedanke seiner Darstellung in Kreuzform sind Anleihen aus Natalia Zlidnjevas brillantem Beitrag “Obraz teny v balkanskom iskusstve”, der in der Sammlung Obraz mira v slove i rituale, Balkanskie chteniya – I, Moskau: 1992, S. 162, erschienen ist.

 

 

Montenegro

 

The Cross, or: The Geometry of Fate

While bearing in mind the limitations naturally imposed by the procedure of drawing simplified conclusions, we may still say with ample reason that Montenegro´s current disharmonious social reality, particularly its culture, is generated by two highly conflicting fields of influence. On the one hand, the heavy burden of tradition “pulls” towards social stasis, in spite of (or: precisely due to) the relative wealth of cultural energies which it contains; on the other hand, the “globalist” distribution of power, its socio-cultural trajectories and the multiplicity of media networks seem to cover the strong field of tradition, opening up and developing processes of disintegration, unificatory redirection and “acceleration”. The overall picture of Montenegrin social reality is certainly more complete if to these generators we also add the experience of the breakdown of an apparently stable ideological system and the “transitional” reprogramming of social functions and mechanisms launched from its ashes, as well as the trauma of the bloody disintegration of the previous common state and the instability, uncertainty and “temporary” feel of the current state identity. Traces of these social symptoms, of this turbulent historical context, can undoubtedly be found within the complex intellectual and phantasmatic processes which fuel artists´ actions, and then not so much in the immediately legible character of the visual signs in their scenes, although such examples, too, exist, but rather in the specific interior dramaturgy of work, which doubtlessly also points to a deeply unstable existential experience. However, one should under no circumstances forget that in the history of Montenegrin art this type of work is by no means exclusive, in a sense, to the recent dramatic times and that, however paradoxical this might at first appear, it is deeply rooted in the tradition which, at the same time, it struggles to overcome! The history of this art during the last hundred years or so, practically unprecedented, rests on “the mythology of expression, not on the semiotics of distributed signs”. 1 Its discourses are markedly existentialist, even when – for example – dealing with statements which can broadly be classed as forms of minimalist linguistic culture. Strictly speaking, reflexion, cold analysis and tautology remain outside its immediate reach and interest, which is quite in keeping with the dominant processes of self-identification of Montenegrin culture in general, which are primarily myth-making, and to a much lesser degree reflexive. Speaking in the language of different, but equally well-known metaphors, this art is dark, chthonic, diabolic and Dionysian, rather than luminous, angelic and Apollonian.

It appears that the geometry of fate to which this art gives such powerful symbolic expression can only be suitably represented in a cruciform shape, which in this case recalls not only “sacrifice, suffering and torment”, but primarily a state of “being torn”, of an “intersection” and a “median” between worlds (East and West), of a need to reconcile the heavy verticals of the archaic and the obsessive horizontals of information technology. 2 Speaking in the (already problematic) theoretical terms of cultural “centres” and “peripheries”, of the “metropolitan” and the “provincial”, this art clearly belongs to the unclean, hybrid languages and plots of the “periphery” and the “province”, but it is markedly subjectivist and vital precisely thanks to its hybrid and mulatto nature. On the other hand, regardless of the multiplicity of forms, of the plurality of languages, this art is – in this respect, too – again deeply rooted in tradition. Its patent subjectivism is anchored in the authentic and fundamental characteristics of Montenegrin patriarchal society as a strikingly “non-anonymous” society, a society based on attributive-subjective, personal participation in historical processes: therefore, here not even the history of war is “merely” collective history, but a history of individual participation, with concrete first and last names and patronymics, which prevents even the tiniest possibility of anonymisation.

Therefore, not only does this art reveal some specific, local obsessions and phantasms, but in its image we clearly recognise signs of the current global paths of civilisation. The decay of “grand narratives” and ideologies, the loss of a meaningful social perspective and the impossibility to think the “totality of the world” are accompanied by an enormous concentration of fragmentary identities and the internalisation and expansion of meaning of an unsurveyable multitude of “small historisations” or their non-narrative constructs. The ineffability of Meaning, the impossibility of analysing or establishing it, deeply compromises the culture of narrativity, which relies on the original nature of verbal languages, and thus opens up a space for additional arguments in favour of the evident domination by the culture of the image and its fractal nature.

Finally, turning back to the need for concrete historical identification, we can say that the current Montenegrin art scene, or at least that part of it dealing with the most interesting and significant problems, was essentially constituted during the 1990s. That was a time of distinct expansion and establishment of varied media practices, accompanied by appropriate theoretical and critical support and very articulated exhibitions, the most important of them certainly being the repeated appearances at the Cetinje Biennial, which made possible meetings with – and unavoidable “tests of strength” against – relevant work from the international art scene. It was also a time of a loss of interest, in principle, in those models of representation which still exist in the basic “physicality” of the world, embodied in links to the earth and the paradigm of “gravity”. This deconstruction of the unified, rounded corporeality of the artistic object and the shift in interest towards methodologies of conceptualisation, however “unclean”, “hybrid” and “existentialised”, may be seen as a somewhat belated reflex of artistic experiences historically already achieved on the “metropolitan” scene, but primarily they point towards an authentic vision of the general fragmentation and virtualisation of the world, as well as to a fundamental paradox of the tendency to overcome it metaphysically, which ends back in its initial aporia: it is impossible to think the world without remaining in it!

Petar Ćuković

Translation from serbian into english: Srdjan Vujica

1) Tomaž Brejc, Temni modernizem, Ljubljana: Cankarjeva založba, 1991, p. 6

2) I have taken the expression “geometry of fate”, and the idea of its manifestation in a cruciform shape from Natalia Zlidnjeva’s brilliant text “Obraz teny v balkanskom iskusstve”, published in the collection Obraz mira v slove i rituale, Balkanskie chteniya – I, Moscow: 1992, p. 162