Griechenland

 

Jannis Kounellis

Maria Papadimitriou

Personal Cinema

Lina Theodorou

 

English version

ür die meisten Menschen ist die griechische Gegenwartskunst „Terra incognita“. Bis vor kurzem drang Griechenlands zeitgenössische Kunst kaum über die Landesgrenzen hinaus und war im Ausland dementsprechend unbekannt. Wie bei vielen Ländern mit großer kultureller Vergangenheit spielt auch hier die Gegenwartskunst nur eine sekundäre Rolle; stattdessen wird bevorzugt das Kulturerbe gepflegt und beworben. Der moderne griechische Nationalstaat bezieht sich in seiner Selbstdarstellung in vielerlei Hinsicht auf die Vorstellung von historischer Kontinuität, und seine Beziehung zu dieser gewichtigen, doch fernen klassischen Vergangenheit lebt bis in unsere Zeit fort. Allerdings handelt es sich bei dieser Beziehung hauptsächlich um eine romantisierende, exotische Version der Antike, wie sie beispielsweise im 19. Jahrhundert bei Nordeuropas reisebeflissenem philhellenischem Bildungsbürgertum en vogue war. In Wirklichkeit begann die Entwicklung des modernen Griechenland erst 1829 nach dem Ende der fast 400-jährigen ottomanischen Herrschaft. Im 20. Jahrhundert wandelte sich Griechenland von einer ländlichen zu einer hauptsächlich urbanen Gesellschaft, konnte schrittweise die Armut der Zeit zwischen den Weltkriegen überwinden und wurde schließlich nach OECD-Angaben zu einem der 30 höchstentwickelten Länder der Welt. Dreißig Jahre nach dem Sturz der Diktatur ist Griechenland nun ein blühendes demokratisches Staatswesen, ist Mitglied in der EU, hat bereits seine erste Einwanderungswelle erlebt und versucht sich nun in seine neue Rolle auf der Weltkarte hineinzufinden. Auch die zeitgenössische Kunst blüht seit etwa zehn Jahren zunehmend auf. Das Fehlen einer gut durchdachten und strukturierten Politik zur Förderung von Gegenwartskunst, die finanziell dürftige öffentliche Förderung, der Mangel an Institutionen und an der für Gegenwartskunst erforderlichen Infrastruktur hat Griechenlands Kunst und Künstler lange Zeit vom internationalen Mainstream isoliert. Noch vor sehr kurzer Zeit begriff man die bildenden Künste (und Kultur im Allgemeinen) als eine Art Tradition, die aber weitgehend ethnozentrisch und in sich geschlossen war, und in der akademische Axiome wie das „Griechentum“ und die Verehrung der Antike einen hohen Stellenwert besetzten. „Fortschrittliche“ griechische Kunst dagegen sah man fast nur außerhalb Griechenlands (von Künstlern wie Kounellis, Samaras oder Takis), daheim fristete sie eine Randexistenz. Erst in allerjüngster Zeit hat sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir zu einer neuen Identität finden müssen, die auf Erfahrungen aufbaut, die wir selbst in der unmittelbaren Vergangenheit oder der Gegenwart und nicht in grauer Vorzeit gemacht haben und die nicht durch die Sichtweise Außenstehender vermittelt sind.

Typisch für das moderne Griechenland sind seine kulturelle Hybridität und seine Befruchtung durch andere Kulturen, die sich vor allem durch seine Geschichte und seine geografische Position ergeben haben. Hin- und hergerissen zwischen Herkunft und Willen zur Modernisierung, dem Wunsch nach Importen von Information und Konsumgütern und der Sorge um die Bewahrung der Tradition hat Griechenland erst vor kurzem begonnen, seine komplexe, janusköpfige Identität zu bewältigen. Die heutige griechische Gesellschaft hat sowohl mediterrane und orientalische Einflüsse als auch westlichen Lifestyle und westliches Konsumverhalten assimiliert. Und obwohl sich althergebrachte Traditionen wie die engen familiären Bindungen und der Glaube an die orthodoxe Kirche und deren Machtstellung halten, ist Griechenland bereits ein absolut westlich orientiertes Land, in dem das Leben sich nicht wesentlich von dem in anderen süd- oder westeuropäischen Ländern unterscheidet.

Vor diesem allgemeinen Hintergrund hat sich die zeitgenössische Kunstproduktion entwickelt und emanzipiert. Trotz des chronischen Mangels an Unterstützung für die Gegenwartskunst und trotz der traditionellen, am Ateliermodell orientierten Kunstausbildung an den beiden einzigen (!) staatlichen Kunstakademien hat sich in den letzten Jahren vieles getan, und insbesondere dank privater Initiative und privater finanzieller Unterstützung gab es ein beachtliches Wachstum und viel Aktivität in diesem Kunstbereich. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die zeitgenössische Kunstszene zunehmend von ihrem Inseldasein verabschiedet, den gelegentlich aufkommenden Argwohn gegenüber dem Fremden abgeschüttelt und sich zunehmend dem internationalen Austausch geöffnet. Es entstanden neue Ausstellungsräume, Galerien und Künstlerinitiativen, und Athen und Thessaloniki, die zwei größten griechischen Städte, in denen sich auch die meisten künstlerischen Aktivitäten konzentrieren, besitzen seit kurzem zwei staatliche Museen für zeitgenössische Kunst. Es entstehen zurzeit einige bemerkenswerte Sammlungen mit internationaler und griechischer Gegenwartskunst. Auch wächst allmählich das Publikum für zeitgenössische Kunst, doch der Markt für ihre Arbeiten ist immer noch klein und etwas provinziell.

Eine der wohl wichtigsten Entwicklungen war das Auftreten einer sehr aktiven Generation überwiegend 20- bis 30-jähriger Künstler, die bestrebt waren, ihre Rolle und Praxis neu zu bestimmen. Diese Künstler brachen mit der Vergangenheit, wandten sich von den neofigurativen und neoexpressionistischen Traditionen ab, die in den 80er- und 90er-Jahren vorherrschten, und waren entscheidend daran beteiligt, in Griechenland eine neokonzeptuelle Orientierung zu konsolidieren. Sie behalten die internationale Kunstszene aufmerksam im Blick und versuchen, trotz der recht begrenzten Unterstützung eine Nische in ihr zu finden. Wenngleich die meisten von ihnen zum Überleben auf gelegentliche Galerieausstellungen angewiesen sind und ihre Arbeit meist selbst finanzieren müssen, ist die Arbeit dieser Generation entscheidend für die Renaissance der griechischen Gegenwartskunst gewesen.

Diese Künstler beschäftigen sich weniger – wenn überhaupt – mit inzwischen abgegriffenen und überkommenen Vorstellungen von „Griechentum“ und nationaler Identität, die relevantere Themen für Künstler früherer Generationen waren. Die jüngeren Künstler situieren sich mit ihren Arbeiten im Allgemeinen eher in einem internationalen Kontext, bedienen sich der Kommunikationsnetzwerke, sind sich ihrer globalen Position bewusster, sozialkritischer, interdisziplinärer und technologisch raffinierter. Diese Generation ist zwar in Griechenland aufgewachsen, hält aber ihren Blick auf Europa und den Rest der Welt gerichtet und hat sich von den bleiernen „Altlasten“ befreit. Womöglich ist sie die vielversprechendste Künstlergeneration seit 50 Jahren, da sie weder von der xenophoben Inselmentalität gelähmt ist, die einen Großteil des griechischen Kunstestablishments auszeichnet, noch blind internationalen Trends nachläuft. Vielmehr nutzt sie jede Möglichkeit, Erfahrungen in den verschiedensten Bereichen – vor Ort oder im Ausland – zu machen und findet so zu einer eigenen Wahrnehmung von Individualität, die es ihr ermöglicht, eine weit gefächerte Palette von globalen und lokalen Themen zu artikulieren.

Wie auch andernorts finden sich in ihren Arbeiten eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze, zahllose künstlerische Positionen, Wahrnehmungsweisen und Vokabulare, existieren weder ein dominierender Stil noch ein allgemein verbindliches Wertsystem. Was diese Künstler jedoch teilen, ist eine gemeinsame Erfahrung der Welt und ihres Umfelds, die großstädtische Herkunft und die Realität des Lebens in einer sich rasch wandelnden urbanen Umgebung. Doch davon einmal abgesehen, lässt sich ihre Arbeit nicht weiter in Kategorien wie „Nationalität“ etc. einordnen.

So behandeln beispielsweise Lina Theodorou, Maria Papadimitriou, Vangelis Vlachos und die Arbeitsgruppe Personal Cinema eine Vielzahl von sozialen und politischen Themen unter Verwendung von Videos, Installationen, interaktiven Technologien und Internet. Andreas Angelidakis, Eleni Christodoulou, Sophia Kosmaoglou, DeAnna Maganias, Alexandros Psychoulis und Costis Velonis spielen, auf der Suche nach ihrer persönlichen Ausdrucksweise von Raum, mit Design, Architektur und digitaler Bildverarbeitung und mit Medien wie Malerei, Skulptur oder Digitaldruck. Die interdisziplinäre Arbeitsweise von Nikos Charalambidis und Sia Kyriakakos dekonstruiert griechisches Kulturerbe und griechische Geschichte, Bräuche und Traditionen mittels Humor, Ironie und Witz. Maurice Ganis und Alexander Georgiou setzen Malerei respektive Fotografie ein, um die persönliche Identität zu erkunden, existenzielle Fragen zu formulieren oder das Gefühl urbaner Entfremdung und Isolation zu artikulieren. Dimitris Tsoublekas reagiert in seinen digital manipulierten Fotografien, welche das für Athen so typische Spannungsfeld zwischen Alt und Neu, Vergangenheit und Gegenwart perfekt einfangen, geistreich und surrealistisch auf das unerträgliche Chaos in der Hauptstadt. Ein ganz anderer verblüffender Aspekt ist auf den Landschaftsfotografien von Panos Kokkinias zu entdecken, der die Vorstellung einer „typisch mediterranen“ Landschaft durch subtile, oft absurde Eingriffe unterminiert.

Diese Künstler, um nur ein paar Namen zu nennen, setzen sich – unter Berücksichtigung ihrer eigenen Erfahrung von Zeit und Ort – mit den sich wandelnden sozialen, ökonomischen und kulturellen Realitäten Griechenlands auseinander. Sie sind viel eher dazu bereit, heikle Fragen zur „nationalen Identität“ aufzuwerfen und dürften wohl auch eher an der Entstehung von postnationalen oder privaten Identitäten interessiert sein. Wo aus ihrer Arbeit kulturelle Spezifität spricht, gibt sie sich trotzdem weder didaktisch, chauvinistisch noch ethnozentrisch, denn sie versuchen zwar, das Gefühl für lokale Eigenheiten zu behaupten, stellen sich aber auch gleichzeitig der Herausforderung des Arbeitens in einer globalen Kultur.

Katerina Gregos

Athen, Juli 2003

Deutsch: Sebastian Viebahn

 

 

Greece

 

To most people, contemporary Greek art is “terra incognita”. Until recently, contemporary Greek art rarely crossed the borders of Greece and is thus little known outside. As is the case with many countries with a renowned cultural heritage, contemporary art is often relegated to a secondary role in favor of preservation and promotion of this heritage. In many ways, the modern Greek nation-state has based its self-image on the notion of historical continuity and its links with its weighty, but remote, classical past persisting up until today. Actually, these links have more to do with a romanticised, exoticised version of the classical era, as propagated, for example, in the 19th century by northern European Philhellenes on the Grand Tour. The reality is that the development of modern Greece began in 1829, following the end of nearly four hundred years of Ottoman rule. During the twentieth century, Greece saw the transition from a rural to a predominantly urban society, gradually emerging from the poverty of the mid-world war period to become one of world’s thirty most developed countries, according to the OECD. Thirty years after the fall of the dictatorship, Greece is now a prospering democratic country, an EU member, which has accepted its first wave of immigrants, and is trying to come to terms with its new position on the world map.

Contemporary art has begun to flourish during the last ten years or so in Greece. The lack of a well thought-out and structured public policy regarding the promotion of contemporary culture, the scarcity of public funding, as well the shortage of institutions and the necessary infrastructure to support it, have contributed to the longstanding isolation of Greek art and artists from the international mainstream. Until very recently, the visual arts (and culture, in general) were conceived of in terms of a tradition that was largely ethnocentric and inward looking, where academic axioms of “Greekness”, and the worship of antiquity were key concerns. “Advanced” contemporary Greek art mostly manifested itself abroad (through the work of artists such as Kounellis, Samaras or Takis), or was marginalised at home. Only recently has it become common consciousness that we need to re-invent our identity based on recent or present experiences and not those of the distant past; experiences which are our own and not mediated by external perspectives.

Modern Greece is a country characterised by cultural hybridity and cross-cultural fertilisation, largely the result of history and geographical location. Dwelling between its ancestry and the will to modernize, an eagerness to import consumer goods and information and the anxiety to preserve tradition, it has only recently begun to come to terms with this complex, double-sided identity. Contemporary Greek society has assimilated both Mediterranean and Oriental influences as well as Occidental lifestyles and consumerist habits. Though long-standing traditions such as the close-knit family and the belief in and strength of the Greek Orthodox religion persist, at the same time Greece is a fully westernised nation, where life is not much different from life in other Southern or Western European countries.

This, in general, constitutes the background out of which contemporary Greek artistic production has tried to emerge. Despite the longstanding lack of support for contemporary art and the traditional, atelier-style education offered at the two (only) national schools of fine art, much has changed in recent years and there has been great growth and activity in the field of contemporary art, much of which has depended largely on private enterprise and financial support. In the last ten years or so, the contemporary art scene has gradually become more de-insularised, it is casting aside its occasional suspicion of the foreign, and is becoming increasingly open to international exchange. New exhibition spaces, galleries and artist-run initiatives have opened; Athens and Thessaloniki, the two largest cities, where most artistic activity is concentrated, now boast recently established state museums of contemporary art. A handful of notable collections of international, as well as of Greek contemporary art are now being shaped and the audience for contemporary art is gradually growing, though the art market is still small and provincial.

Perhaps one of the most important developments has been the emergence of a highly active generation of artists, now predominantly in their twenties and thirties, who have been keen to re-define their roles and their practice. These artists severed their links with the past, abandoned the neo-figurative and neo-expressionist traditions that were dominant in the 80ies and early 90ies, and were instrumental in consolidating a neo-conceptual tradition in Greece. They are aware of the international art scene and are trying, despite limited support, to find a niche in it. Though most of them depend on the occasional gallery show to survive and, in most cases, have to self-finance their work, the activities of this generation have been instrumental in the regeneration of Greek contemporary art.

These artists are less (or even not at all) concerned with now tired and old-fashioned notions of “Greekness” and national identity, issues that were more significant for artists of older generations. Younger artists’ work tends to be more situated within an international context, makes use of the communication networks, is more socially critical, globally aware, inter-disciplinary and technologically savvy. This is a generation that has grown up in Greece but has set its eyes on Europe and the rest of the world and has shed the weighty “baggage” of the past. This generation of Greek artists could well be the most promising of the last fifty years, as they are no longer bogged down by the xenophobic insular mentality that characterises a large part of the artistic establishment in Greece, nor do they blindly follow international trends. Rather, they embrace every field of experience at home or abroad in order to express their own sense of individuality and to articulate a wide variety of concerns, global as well as local.

As everywhere else, one will find in their work heterogeneity of approaches, a proliferation of artistic positions, sensibilities and languages, and an absence of a prevailing stylistic hegemony or dominant set of conventions. What these artists share are common experiences of perceiving the world and their surroundings, a metropolitan genealogy and the reality of living in a rapidly changing urban environment. Other than that, it is virtually impossible to pin down their work by “nationality” or other categorising labels.

Lina Theodorou, Maria Papadimitriou, Vangelis Vlachos and the collaborative group Personal Cinema, for example, address a plurality of social and/or political issues using video, installation, and interactive technologies or the internet. Andreas Angelidakis, Eleni Christodoulou, Sophia Kosmaoglou, DeAnna Maganias, Alexandros Psychoulis and Costis Velonis play with design, architecture and digital image processing in their quest for a personal expression of space, be it through the media of painting, sculpture or digital prints. Nikos Charalambidis and Sia Kyriakakos work in an inter-disciplinary fashion to deconstruct Greek history, heritage, customs and traditions with humor, irony and wit. Maurice Ganis and Alexander Georgiou use painting and photography, respectively, to examine personal identity and to articulate existential quests and the feeling of urban alienation and isolation. Dimitris Tsoublekas responds to the maddening chaos that is Athens with a surrealist wit through his digitally manipulated photographs which perfectly capture the city’s archetypal tension between old and new, past and present. A different uncanny, surrealist aspect can be detected in the landscape photography of Panos Kokkinias, who subverts the idea of a ‘typical’ Mediterranean countryside through subtle, often absurd interventions.

These artists, to name but a few, are grappling with the changing social, economic and cultural realities in Greece, while taking into account their own particular experiences of time and place. They are much more likely to question slippery issues of “national identity” and are probably more interested in the emergence of post-national or private identities. If their work articulates a sense of cultural specificity it is neither didactic nor chauvinistic or ethnocentric. At the same time, they face the challenge of how one works within a global culture, while attempting to assert a sense of local difference.

Katerina Gregos

Athens, July 2003